Krisengeflüster. Wahre und falsche Ursachen der Finanzkrise

Rede von Lothar Galow-Bergemann zum Neujahrsempfang der Aktion 3. Welt Saar, 23. Januar 2009

Siehe auch die englische Übersetzung

Dieses Jahr wird man den 20ten Jahrestag des Berliner Mauerfalls begehen. Kein vernünftiger Mensch wird einem System nachtrauern, das einst mit dem Versprechen einer besseren Alternative zum Kapitalismus angetreten war und das sich im Laufe seiner Geschichte selbst so sehr diskreditiert hat, dass es mit Schimpf und Schande von der Weltbühne abtreten musste. Trotzdem werden diesmal die Jubelgesänge auf die freie Marktwirtschaft als der angeblich besten aller Welten deutlich leiser ertönen als noch zu Beginn der neunziger Jahre. Denn dass der Kapitalismus Krisen, Kriege und Katastrophen hervorbringt, wird gerade in diesem zwanzigsten Jahr seines scheinbaren weltweiten Triumphes ganz besonders deutlich.
Wenn es nur eine Krise wäre, die diese globalisierte Wirtschaftsordnung der Menschheit beschert, so könnte man fast noch von Glück reden. Aber es sind derer mindestens gleich fünf: – die Hunger- und Ernährungskrise – die Energiekrise – die Umwelt- und Klimakrise – die staatliche Zerfallskrise in großen Teilen der Welt – und die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise. Alle diese Krisen sind miteinander verwoben und bilden gemeinsam eine Art globaler Hyperkrise, die – und das ist leider nicht übertrieben – möglicherweise dazu führen wird, dass sich die Menschheit selber vernichtet und einen Großteil der Natur gleich mit. Nur wer mit ideologischen Scheuklappen à la Guido Westerwelle oder Friedrich Merz herumläuft, kann davor noch die Augen verschließen.
Dass wir dringend Alternativen brauchen, ist zur Überlebensfrage geworden. Doch da wir erlebt haben, dass das mit den Alternativen eine komplizierte Sache ist, sollten wir uns zunächst einmal darum bemühen, die Welt, so wie sie ist, zu verstehen. Aber auch das ist leider gar nicht so einfach. Denn was einem auf den ersten Blick als wahr erscheint, ist es bei näherem Hinsehen oft gar nicht. Nehmen wir beispielsweise die aktuelle Krise, die sich derzeit zur weltweit größten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren auswächst. Es sieht so aus, als sei sie in der Finanzsphäre entstanden. Gigantische Fehlspekulationen – gierige Manager – geplatzte Finanzblasen – Bankenzusammenbrüche – riesige staatliche Rettungspakete, von denen keiner so richtig weiß, wie sie eigentlich zu finanzieren sind… Aber war das die wirkliche Ursache der Krise?

Viele glauben ja, es gebe einerseits eine „vernünftige“ Wirtschaft, in der mit „moderaten“ Gewinnvorstellungen all das produziert werde, was wir eben so zum täglichen Leben brauchen. Und andererseits gebe es, davon völlig unabhängig, eine Finanzwirtschaft, in der sich gierige Manager und Spekulanten herumtreiben und uns alle ins Unglück stürzen, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen können.
Wenn es nur so einfach wäre. Dann könnte man die Krise nämlich leicht in den Griff bekommen: Ein paar scharfe Gesetze, den einen oder anderen Manager in den Knast stecken und schon liefe die Sache wieder. Doch was wäre gewonnen, wenn Peter Sodann Josef Ackermann verhaften würde?
So einfach funktioniert es nicht. Denn was scheinbar mit Bankenzusammenbrüchen begann, hat in Wirklichkeit schon früher angefangen. Die Ursachen liegen in der so genannten Realwirtschaft selbst.

Die kapitalistische Wirtschaft hat nämlich drei ganz grundlegende Strickfehler.
Der erste Strickfehler: Sie funktioniert nur, wenn sie ewig wachsen kann. Jedes Kind weiß zwar, dass so etwas auf Dauer schief gehen muss. Aber trotzdem ist das ewige Wirtschaftswachstum die heilige Kuh dieser Gesellschaft. Kommt das Wachstum ins Stottern, geht es gar zurück, jammern Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Kommunalpolitiker und Zeitungskommentatoren unisono, denn dann geht es unweigerlich an die Profite, an die Arbeitsplätze, an die Steuereinnahmen, kurz an die Grundlagen von Wirtschaft und Staat.
Der zweite Strickfehler: Dieses Wachstum funktioniert nur, wenn möglichst hohe Profite gemacht werden. Die müssen nämlich in den nächsten Kreislauf der Kapitalverwertung investiert werden, damit dann möglichst noch höhere Profite gemacht werden, die ihrerseits wiederum… usw. usf. … Kapital, das zu wenig Profit macht, geht im gnadenlosen Konkurrenzkampf unter. Es ist ein weit verbreiteter Glaube, das Kapital nach Profit streben würde. Das ist falsch. Es strebt – bei Strafe des Untergangs – nach Maximalprofit. Und das ist etwas sehr viel anderes. Ich bitte zu beachten, dass wir immer noch nicht über die Sphäre des Finanzkapitals reden, sondern über die ganz basalen Probleme der Marktwirtschaft, vulgo des Kapitalismus.
Der dritte Strickfehler: Profit lässt sich nur aus der Verwertung menschlicher Arbeitskraft ziehen, denn nur diese ist in der Lage, mehr Wert zu produzieren, als sie selber hat. Wer folglich zu den „Arbeitnehmern“ gehört, also darauf angewiesen ist, vom Verkauf seiner Arbeitskraft zu leben, der muss auch einen Nutzen für diesen Kreislauf aus ewigem Wachstum und Maximalprofit abwerfen. Tut er das nicht, so ist er nicht profitabel und gilt in diesem System als nicht „verwertbar“, d.h. er hat im Prinzip keine Existenzberechtigung. Schon seit langem werden aber immer weniger Menschen gebraucht, um die ständig steigenden Massen von Waren herzustellen. Dass immer weniger menschliche Arbeitskraft nötig ist, ist u.a. eine Folge der Mikroelektronik und allgemeiner „Computerisierung“ seit Mitte der siebziger Jahre.
Immer weniger „verwertbaren“, sprich entlohnungsberechtigten Menschen stehen immer mehr und billiger produzierte Waren gegenüber. Das Kapital erzielt aufgrund dieser „Überproduktion“ in der so genannten Realwirtschaft –- insgesamt betrachtet – immer öfter nur ungenügend Profit. Als Reaktion darauf flieht es zunehmend in die Finanzsphäre, wo fettere Profite winken. So lässt sich dann das Hamsterrad des Verwertungskreislaufs noch einmal weiterdrehen. Diese Profite stehen allerdings auf einer äußerst wackeligen Grundlage. Denn all die Kredite, Aktien, Fonds, Derivate etc. leben letztendlich nur von der Hoffnung auf zukünftig irgend wann einmal realisierte Profite in der Realwirtschaft. Verdüstern sich diese Aussichten und verliert irgendein relevanter Teil der Kette seine Kreditwürdigkeit, so tritt der berühmte Domino-Effekt ein und einer fällt nach dem anderen um. Und das ist es, was wir gerade erleben.
Die Krise, deren Grundlagen in der Realwirtschaft liegen, bricht also zuerst in der Finanzsphäre aus, schlägt dann aber auf die Realwirtschaft zurück. Denn jetzt gerät der Kreditfluss ins Stocken. Wer weiß schließlich schon, ob die Kredite nicht faul sind und ob er noch was zurückkriegt bzw. ob er’s noch zurückzahlen kann? Ohne Kredite aber keine Investitionen und ohne Investitionen funktioniert der Wachstums- und Profitkreislauf nicht mehr. Abschwung, Rezession, wachsende Arbeitslosigkeit, sinkende Steuereinnahmen des Staates und weiterer Sozialabbau sind die Folgen.
Die Billionen-Stützungspakete für die Banken, die aus dem Boden gestampft wurden und werden, sind ein Skandal angesichts von Arbeitslosigkeit, Hartz IV und weltweitem Hunger. Aber sie haben ihre eigene innere kapitalistische Logik. Und trotzdem können auch sie das Problem nicht wirklich lösen. Denn die Staaten werden sich damit zwangsläufig noch mehr verschulden. Dasselbe gilt übrigens auch für die Konjunkturprogramme, die jetzt weltweit aus der Taufe gehoben werden. Die Folge wird eine noch gigantischere Aufblähung der Finanz- und Schuldenblase sein: die nächste Krise ist vorprogrammiert und am Horizont winkt das Gespenst des Staatsbankrotts.
Das eigentliche Problem sind also nicht ein paar gierige Manager und Spekulanten. Die sitzen zwar an der Quelle und machen auch ihren persönlichen Deal, aber letztendlich tun sie genau das, was der Wirtschaftskreislauf verlangt: höchst mögliche Profite für ein unendliches Wachstum erzielen. Das eigentliche Problem sind also die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft selbst.
Dieser Zusammenhang wird leider kaum thematisiert. Denn so wie es im Mittelalter tabu war, die Herrschaft der Kirche anzuzweifeln, so herrscht heute das Denkverbot, die Grundlagen der Marktwirtschaft zu hinterfragen. Stattdessen reimt sich das Alltagsbewusstsein immer wieder irgendwelche Bösewichter zusammen, die angeblich an allem schuld sind. Denken wir nur an das Bild der angloamerikanischen „Heuschrecken“, die über unsere ehrlich arbeitenden deutschen Fabriken herfallen und sie aussaugen, um dann auf der Suche nach dem nächsten Opfer weiterzuziehen.
Von Franz Müntefering, als er schon mal SPD-Vorsitzender war, in die Welt gesetzt, hat sich dieses Bild rasend schnell verbreitet. Gemeint waren Hedgefonds und Private-Equity-Fonds und oft genug wurden auch deren Spitzenmanager persönlich zu solch unsympathischen Insekten erklärt. Zum Beispiel auch von meiner Gewerkschaft ver.di, die vor einem Jahr eine Broschüre herausgab, in der es von diesen schrecklichen Biestern, die an allem schuld sind, nur so wimmelte. Es ist in allerjüngster Zeit erstaunlich still geworden um die „Heuschrecken“. Kein Wunder, denn im Zuge der Finanzkrise sind sehr viele von ihnen bankrott gegangen. So schnell wurden aus Tätern Opfer der kapitalistischen Krise und die Rede von den Heuschrecken als Verursacherinnen des Übels hat sich im Handumdrehen blamiert. Aber das führt leider in vielen Fällen nicht dazu, nun über die tieferen Ursachen der Krise nachzudenken. Ein anderer, der auch schon mal SPD-Vorsitzender war, glänzt da besonders. Oskar Lafontaine hat nunmehr als eigentliche Verursacher der Krise „verantwortungslose Zocker“ ausgemacht, die „mit unserem Geld spielen“. Genauso bestechend wie seine Analyse sind seine Rezepte: Spitzenmanager sollen bloß noch 600 000 Euro im Jahr bekommen. Sein Amtsnachfolger im Amt des Bundesfinanzministers, Peer Steinbrück, war da ein ganzes Stück „antikapitalistischer“ und hat nur 500 000 verfügt. Da staunte Oskar nicht schlecht: „Unsere Vorschläge werden so schnell akzeptiert, dass wir damit gar nicht mehr nachkommen“ sprach er im Bundestag und machte damit unfreiwillig klar, wie wenig originell auch die Vorschläge aus dieser Ecke sind.

Wenn schon Krise, dann wenigstens keine oberflächliche und falsche Krisenanalyse!
Denn – und das ist gewissermaßen das „Sahnehäubchen“ auf der globalen Hyperkrise: Personalisierte und regressive ideologische Krisenverarbeitung in den Köpfen fördert das Umsichgreifen des Ressentiments und die Gefahr, dass extrem menschenfeindliche und reaktionäre Bewegungen entstehen, die sich zusammenphantasieren, die Krise könne mittels der Vernichtung der von ihnen ausgemachten Bösewichte überwunden werden. Dieser Wahn verschärft dann das Krisenpotential noch einmal deutlich und die Lage wird noch explosiver. Die Krise von 1929, an die mit Recht im Zusammenhang mit der aktuellen Krise erinnert wird, brachte ja nicht nur Massenarbeitslosigkeit und Elend für Millionen hervor, sie gebar letztendlich auch das bis heute verbrecherischste Regime in der Menschheitsgeschichte, den deutschen Nationalsozialismus. Heute sehen wir mit Schrecken wieder den wachsenden Einfluss von Naziideologie. Wir haben es aber auch mit dem weltweiten Aufstieg des religiösen Fundamentalismus zu tun. Dessen derzeit mächtigste, extremste und gefährlichste Variante, gleichsam seine Speerspitze, ist der Islamismus. Leider haben viele immer noch nicht seinen Charakter und seine Gefährlichkeit verstanden. Hören wir dazu, welche Erklärung für die Krise der Präsident des islamistischen Gottesstaates im Iran der UN-Vollversammlung im vergangenen September vortrug. Er phantasierte von „einer kleinen, aber hinterlistigen Zahl von Leuten namens Zionisten“: “Obwohl sie eine unbedeutende Minderheit sind, beherrschen sie einen wichtigen Teil der finanziellen Zentren sowie der politischen Entscheidungszentren einiger europäischer Länder und der USA in einer tückischen, komplexen und verstohlenen Art und Weise.“
Nenne mir Deine Krisenanalyse und ich sage Dir, wer Du bist. Das Zitat macht deutlich: Diese Art von „Krisenanalyse“ lebt in der gleichen Vorstellungswelt, die auch die NS-Ideologie beseelt, sie ist zutiefst antisemitisch. Nur dass sie statt von Juden von Zionisten spricht. Beide Ideologien sind vom antisemitischen Vernichtungswahn getrieben und es ist kein Zufall, dass der iranische Präsident den Holocaust leugnet und den Staat Israel ausradieren will. „Das böse Jüdische“ muss in dieser perversen Logik vernichtet werden, damit es „uns“ wieder gut geht.
Übrigens hat auch Müntefering die Heuschrecken-Metapher nicht wirklich in die Welt gesetzt. Sie stammt ursprünglich aus dem Film „Jud Süß“, der 1940 in die deutschen Kinos kam und Millionen von ZuschauerInnen begeisterte. In der Schlüsselszene mobilisiert dort der Anführer der ehrlich arbeitenden Deutschen seine Leute gegen die gierigen und verschlagenen Juden mit dem Aufruf: „Wie die Heuschrecken fallen sie über uns her!“ Nun hat Müntefering – und das zu betonen ist mir wichtig – mit Sicherheit nicht daran gedacht, als er von den Heuschrecken sprach und weder er noch Lafontaine und andere, die diese Metapher gebrauchen, sind deswegen Antisemiten. Aber eine oberflächliche und falsche Kapitalismuskritik ist andockfähig an das antisemitische Ressentiment, sie birgt die Gefahr, durch ihre verkürzte und vereinfachte Sicht der Dinge – und sei es auch unfreiwillig – das Wiedererstehen reaktionärer Massenbewegungen zu befördern und im schlimmsten Fall zur Etablierung verbrecherischer Regime mit beizutragen.
Nun wäre allerdings noch eine Frage zu beantworten, nämlich die wichtigste: Wie könnte eine wirkliche Alternative zum Kapitalismus aussehen? Natürlich habe ich dafür ein fix und fertiges Rezept in der Tasche, das ich Ihnen sehr gerne auch noch detailliert vortragen würde. Aber Sie haben Pech, denn leider ist meine Redezeit vorbei und man hat mir eingeschärft, dass ich nur 15 Minuten habe. Im Ernst.
Natürlich hat niemand ein Rezept dafür und nichts wäre kontraproduktiver als etwa neue „Lehrbücher“ nach Art des verblichenen Realsozialismus zu schreiben. Menschen, die die Welt verändern wollen, müssen mit praktischen Schritten anfangen und aus Erfahrungen lernen. Doch einige Grundzüge einer besseren Welt lassen sich durchaus schon benennen und wenn ich Sie bis jetzt noch nicht genug provoziert habe, so gelingt mir das hoffentlich jetzt:
Wenn es heute möglich ist, mit so wenig Arbeit wie noch nie so viel wie noch nie zu produzieren, dann dürfen deswegen nicht Menschen überflüssig werden, wie das im Kapitalismus der Fall ist, sondern die – fast hätte ich gesagt: Gott sei Dank – endlich überflüssig gewordene Arbeit muss in massive Arbeitszeitverkürzung für alle umgesetzt werden. Durchaus ernstzunehmende Leute haben ausgerechnet, dass wir heute ohne den Zwang zu Profitmaximierung und Wachstumswahn mit fünf Stunden Arbeitszeit pro Mensch und Woche auskommen und dabei gut leben könnten.
Wenn es heute möglich ist, im globalen Netz Projekte, Ideen und Software in freier Kooperation zu entwickeln, ohne dass sich die Beteiligten dafür gegenseitig Rechnungen ausstellen, dann stellt sich die Frage, ob Geld und Verwertungskreislauf überhaupt noch eine Zukunft haben.
Wenn wir mit wesentlich weniger Arbeit als früher genug für alle im Überfluss produzieren können – und dazu sind wir technisch bereits in der Lage – warum muss dann der ganze ungeheure gesellschaftliche Reichtum überhaupt noch durch das Nadelöhr von Kauf und Verkauf, von Geld, Profit und Wachstum gequetscht werden? Geld funktioniert nur, wenn es knapp ist. Wo Güter im Überfluss vorhanden sind und es für alle reicht, steht die Geldwirtschaft selbst zur Disposition.
Seien wir Realisten. Verlangen wir das Unmögliche.
Nicht nur der Rest der Republik hat die Aktion 3. Welt Saar verdient.
Wir alle, unsere Kinder und Kindeskinder haben auch etwas Besseres verdient als die kapitalistische Krisenwirtschaft.

Englische Fassung des Beitrags