Schikane als Balsam für die bürgerliche Seele

Arbeitsminister Hubertus Heil plant den Bürgergeld-Entzug für Arbeitsunwillige. Eine Spiegel-Kolumnistin führt unter Verweis auf die Studienlage aus, dass die Maßnahme nichts bringen wird  und bezeichnet sie dennoch als „notwendig“ – damit sich die Arbeitenden besser fühlen.

von Minh Schredle

[zuerst erschienen bei Disposable Times]

14 Jahre nach Inkrafttreten der Harz-IV-Reformen urteilte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen zur Durchsetzung sogenannter Mitwirkungspflichten, die der deutsche Staat Erwerbslosen und Sozialhilfe-Empfänger:innen auferlegt. Gängig und sogar gesetzlich zwingend vorgeschrieben war es zu diesem Zeitpunkt, die staatlichen Leistungen, mit denen ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert werden sollte, schrittweise zu kürzen: Beim ersten Regelverstoß gegen die Mitwirkungspflichten – zum Beispiel durch die Ablehnung einer als zumutbar eingestuften Beschäftigung – um 30 Prozent, beim zweiten Mal um 60 Prozent und schließlich um 100 Prozent.

Das Bundesverfassungsgericht stellte damals klar, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Grundrecht darstelle. „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren“, hieß es in der Urteilsbegründung, die die damalige Sanktionspraxis als teilweise verfassungswidrig einstufte: Die Kürzungen von 60 und 100 Prozent der Bezüge wurden für rechtswidrig erklärt.

Allerdings schrieben die Richter:innen auch: „Das Grundgesetz verwehrt es dem Gesetzgeber aber nicht, die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen (…) nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können, sondern wirkliche Bedürftigkeit vorliegt.“

Daher bleibt dem Gesetzgeber weiterhin ein Spielraum, wie Sanktionen ausgestaltet werden können, verbunden mit der Einschränkung, dass Maßnahmen verhältnismäßig und zielführend sein müssen. Prinzipiell wäre nach Einschätzung des Gerichts auch eine Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar, die Bezüge um 100 Prozent kürzt, allerdings nur unter strikten Voraussetzung. Nämlich „wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (…) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind.“

Mit dem Bürgergeld, das im Januar 2023 an die Stelle von Hartz-IV trat, war eigentlich eine Abkehr vom Bestrafungssystem für Leistungsempfänger:innen geplant. Doch dieser Grundsatz soll in einer geplanten drastischen Kehrtwende ausgehebelt werden. Aktuell bemüht sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), das vom Bundesverfassungsgericht offen gelassene Schlupfloch zu nutzen, um Arbeitsunwilligen erneut das Existenzminimum streichen zu können. Ob eine verfassungskonforme Umsetzung möglich ist, scheint jedoch fraglich. Um eine Komplettstreichung der Grundsicherung zu rechtfertigen, müsste die abgelehnte Erwerbstätigkeit nach Tenor des Bundesverfassungsgerichts geeignet sein, tatsächlich das komplette Existenzminimum abzusichern, inklusive aller Wohn- und Heizkosten. Der Spiegel berichtet allerdings: „Heil will aber auch jenen den Regelbedarf komplett streichen, die eine Arbeit ablehnen, wenn sie ihren Anspruch auf Bürgergeld lediglich verringern würden, weil der Lohn nicht reicht, um ihre Existenz und die ihrer Familie allein damit zu sichern.“ Dies sei laut Spiegel „sozialpolitisch verständlich“, aber entspreche eben nicht den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts.

Zudem stellt sich die nicht ganz neue Frage, wie geeignet die Streichung des Existenzminimums tatsächlich wäre, um den gesetzgeberisch erhofften Effekt – also eine Eingliederung in die Erwerbstätigkeit – zu erreichen. Auch dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht im Urteil von 2019 ausführlich geäußert und die vorhandene Studienlage umfangreich ausgewertet: „Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.“ Vielmehr sei im Lauf des Verfahrens „nachdrücklich darauf hingewiesen“ worden, „dass häufig kontraproduktive Effekte eintreten“. Etwa wenn der Wegfall von Leistungen zur Aufnahme von Schulden führt, die es Betroffenen noch schwerer machen, „ wieder in Erwerbsarbeit zurückzukehren und ihre Existenz selbst zu sichern“.

Mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur (Un-)Wirksamkeit von Totalsanktionen ist auch die Spiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld vertraut. „Sachlich gibt es kaum gute Gründe, die Sanktionen im Bürgergeldsystem zu verschärfen. Sie werden niemanden dauerhaft in Arbeit bringen“, stellt sie fest. Und dann schreibt sie im vollen Bewusstsein der Nutzlosigkeit Heils geplanter Strafen: „Dennoch ist der Vorstoß überfällig“. Sie verweist auf einen von Heils ebenfalls sozialdemokratischen Vorgängern als Arbeitsminister: „Franz Müntefering hat es einmal so ausgedrückt: »Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.« Das ist kein Populismus. Es ist Symbolpolitik, die nicht auf die Arbeitslosen, sondern auf die Beschäftigten zielt.“ Die Begründung? „Weil es jetzt um diejenigen geht, die Arbeit haben. Sie sollen bei der Stange gehalten werden, ihnen muss Solidarität und Bundesgenossenschaft signalisiert werden“, und zwar, „weil es auf sie ankommt“. Respekt sei nämlich nicht nur etwas, das Leistungsempfänger erfahren sollten.

Weidenfeld bemängelt, dass „der Abstand zwischen Stütze und Erwerbseinkommen auf gelegentlich kaum wahrnehmbare Summen geschrumpft“ sei. „Es macht eben oft keinen Unterschied mehr, ob jemand arbeitet oder nicht.“ Sie fordert in ihrem Artikel allerdings keinen höheren Mindestlohn, keine ausgeglicheneren Gehälter zwischen einfachen Arbeiter:innen und Vorstandchefs, die teils das 140-fache ihrer Angestellten verdienen. Weidenfeld will nutzlose Strafen für Menschen am Existenzminimum, damit sich der arbeitende Teil der Bevölkerung besser fühlt. Sie redet dem Nach-unten-Treten das Wort und will die Armen neidisch auf die noch Ärmeren machen.

Um so tragischer ist diese für große Teile der Ellenbogengesellschaft repräsentative Mentalität durch die fundamentale Krise der Lohnarbeit: Nachdem technische Errungenschaften den Einsatz menschlicher Arbeitskraft immer überflüssiger machen, wird das Ideal der Vollbeschäftigung immer absurder. „Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen sicher und behaglich leben können. Wir haben es stattdessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und andere verhungern“, schrieb der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russel vor über 80 Jahren und plädierte dafür, endlich mal gescheit zu werden. Doch aller Innovationen der Zwischenzeit ungeachtet sprechen sich Leitmedien-Kolumnen lieber dafür aus, den gesamtgesellschaftlichen Arbeitszwang mit sinnloser Schikane aufrechtzuerhalten.