Zur Kritik der »neuen Klassenpolitik«
von Ernst Lohoff und Lothar Galow-Bergemann
zuerst erschienen im Online-Magazin Telepolis unter dem Titel “Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht”
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Wir bestreiten nicht die Existenz von Klassen. Dies ist weder ein Beitrag gegen die Arbeiterklasse noch gegen Klassenkämpfe, schon gar nicht gegen die Solidarität mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten und erst recht ist es keine Rede für den Kapitalismus. Wir sind davon überzeugt, dass der Kapitalismus dringend überwunden werden muss und beziehen uns auf Marx. Wir halten große gesellschaftliche Gegenbewegungen und harte soziale Kämpfe für nötig und machbar. Wir glauben aber, dass der Bezug auf Klasseninteresse und Klassenidentität die Entfaltung der dringend notwendigen antikapitalistischen Kämpfe alles in allem eher behindert als fördert. Er vermag weder deren Herausforderungen theoretisch genügend tief zu erfassen noch praktisches Rüstzeug dafür an die Hand zu liefern, die Systemfrage wirklich auf die Tagesordnung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu stellen.
Linke,
die jahrzehntelang vor allem auf Identitätspolitik gesetzt und die
soziale Frage vergessen haben, üben sich zu Recht in Selbstkritik;
denn mit dieser Ausrichtung überließen sie die Deutung wichtiger
gesellschaftlicher Konflikte den Liberalen und Konservativen. Viele
erhoffen sich von der Rückbesinnung auf die Klasse und ihre Kämpfe
einen Ausweg aus dieser Sackgasse. Wir nicht.
Zunächst
befassen wir uns mit dem fundamentalen Unterschied zwischen einem
analytischen
und
einem
identitär
aufgeladenen Klassenbegriff.
Sodann wollen wir anhand dreier zentraler Konfliktfelder – Wohnen,
Arbeitszeit und Klima – skizzieren, warum nur solche Kämpfe, deren
Akteure sich nicht in den theoretischen wie praktischen Fesseln von
Identität und Interesse bewegen, wirklich antikapitalistischen
Charakter annehmen können.
Der Klassenbegriff gehört zwei unterschiedlichen Feldern an. Er hat sowohl einen emanzipationstheoretischen als auch einen polit-ökonomischen Gehalt. Beide gehen auf Marx zurück. Der emanzipationstheoretische wird vor allem in den Frühschriften entwickelt und im Kommunistischen Manifest präsentiert. Der politökonomische Klassenbegriff findet sich in erster Linie im Marx´schen Hauptwerk, dem Kapital.
Für das Emanzipationskonzept war die Klassenfrage zentral; denn die Arbeiterklasse als die große Gegenspielerin der Bourgeoisie könne sich, so Marx, aufgrund ihrer besonderen Stellung im System des kapitalistischen Reichtums nicht befreien, ohne »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist«. Das Klasseninteresse des Proletariats beinhaltet demzufolge seine eigene Abschaffung.
Die Kritik der Politischen Ökonomie beschäftigt sich bekanntlich nicht mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern analysiert deren innere Logik und Funktionsweise. Entsprechend ist auch ihr Klassenbegriff ausgerichtet. Es geht darum, die Position der Hauptklassen innerhalb des kapitalistischen Gefüges zu klären. Gegenüber der emanzipationstheoretischen Klassenvorstellung führt das zu entscheidenden Veränderungen. Die erste betrifft die Anzahl der Klassen. Als Emanzipationstheoretiker kennt Marx nur zwei Hauptklassen, die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse. In der Kritik der Politischen Ökonomie zerfällt die kapitalistische Gesellschaft dagegen in drei Grundklassen. Zur Kapitalisten- und Arbeiterkasse tritt noch die Klasse der Grundeigentümer hinzu. Wichtiger ist aber, dass sich der Status des Klassenbegriffs selbst verändert. Im Marx´schen Emanzipationskonzept sind die Arbeiterklasse und ihr antagonistisches Verhältnis zur Kapitalistenklasse A und O. In der Marx´schen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise wird der Klassenbegriff dagegen als eine logisch nachgeordnete Kategorie behandelt. Denn da die Klassen »Personifikationen ökonomischer Verhältnisse« (MEW 23. S. 100) sind, lassen sie und ihre Beziehungen sich erst nach der Klärung der ökonomischen Kategorien und ihres Zusammenspiels richtig fassen.
In der Kapitalistenklasse personifiziert sich das Kapital, also die Selbstzweckbewegung der Verwandlung von Geld in mehr Geld. Das gemeinsame Klasseninteresse aller Kapitalisten ist darauf gerichtet, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Tauschwertakkumulation zu optimieren. Die Grundeigentümerklasse personifiziert die in Privateigentum verwandelte Naturressource Grund und Boden. Ihr Klasseninteresse besteht darin, einen möglichst hohen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum für die Besitzer dieser Naturressource zu reservieren.
Und auch in der Arbeiterklasse personifiziert sich eine ökonomische Kategorie, nämlich die besondere Ware Arbeitskraft. Der einzelne Arbeiter hat das profane Interesse, seine persönlichen Verkaufsbedingungen zu verbessern, und das Klasseninteresse besteht in einer möglichst günstigen Ausgestaltung der kollektiven Verkaufsbedingungen.
Als Personifikationen ökonomischer Kategorien vertreten alle drei Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft rein immanente Interessen, die die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise voraussetzen. Das gilt auch für die Arbeiterklasse. Trotzdem weist die Arbeiterklasse gegenüber den beiden anderen Klassen eine fundamentale Besonderheit auf. Die Angehörigen dieser Klasse sind von allen Reproduktionsmitteln abgeschnitten und deshalb gezwungen, die einzige Ware zu verkaufen, die sie ihre eigene nennen können, ihre Arbeitskraft.
Die Arbeiterklasse war für Marx deshalb prädestiniert, die kapitalistische Gesellschaft umzuwälzen, weil er in ihr gleichzeitig einen Teil und das Gegenteil der bestehenden Ordnung sah: Teil, weil die lebendige Arbeit aufgrund ihrer Fähigkeit Mehrwert abzuwerfen, die Schlüsselware des kapitalistischen Systems darstellt. Die Mensch gewordene Negation der kapitalistischen Ordnung: weil die Angehörigen der Arbeiterklasse als Arbeitsvieh von den Segnungen des Systems des kapitalistischen Reichtums systematisch ausgeschlossen bleiben.
Auch die Arbeiterbewegung schrieb der Arbeiterklasse die besondere historische Mission der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise zu – allerdings mit einer diametral entgegengesetzten Begründung. Bei Marx firmierte das Lohnarbeiterdasein als der absolute Tiefpunkt der menschlichen Existenz und als Höhepunkt aller »Entfremdung«. Die Arbeiterklasse hatte dementsprechend in seiner Sicht letztlich nur ein Interesse: ihre eigene Abschaffung. Die Arbeiterbewegung bezog sich dagegen affirmativ auf die Arbeit und das Arbeiterdasein. Sie betrachtete sich als Inkarnation des heiligen Prinzips der Arbeit und trat an, »die Müßiggänger« beiseite zu schieben, wie es bezeichnenderweise im Text der »Internationalen« heißt, um die Gesellschaft nach ihrem eigenen Bilde umzugestalten. Das geschichtsphilosophische Konstrukt eines negativ auf die kapitalistische Ordnung bezogenen Klassenstandpunkts wurde durch eine positive, arbeitsreligiös begründete Klassenidentität ersetzt.
Die Arbeiterklasse hat ihre Emanzipation im ausgehenden 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts erkämpft. Anders als Marx angenommen hatte, musste sie dazu die kapitalistische Produktionsweise aber keineswegs sprengen. Den Arbeitskraftverkäufern gelang es vielmehr, auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung ihre Anerkennung als freie und gleichberechtigte Interessensubjekte durchzusetzen und sich ein Stück vom kapitalistischen Kuchen zu sichern. Für diese Art von immanenter Emanzipation war die Überhöhung einer positiven Arbeiterklassenidentität viel besser geeignet als die negative Klassenemphase der Marx´schen Frühschriften. Aus diesem Grund wurde erstere geschichtsmächtig. Gleichzeitig hat sich aber mit der Integration der Arbeitskraftverkäufer in die kapitalistische Gesellschaft das gemeinsame Klasseninteresse auf das reduziert, was es der Logik der Kritik der Politischen Ökonomie nach eigentlich schon immer war: Ein bloßes Binneninteresse, das in keiner Weise über die kapitalistische Gesellschaft hinausweist.
Wenn man sich heute positiv auf das Klassenkonzept bezieht, stellt sich die Frage: auf welches. Missversteht man den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit als Antagonismus und sieht in der Klasse ein wachzuküssendes emanzipatorisches Kollektivsubjekt, dann muss man den klaren analytischen Klassenbegriff opfern. Oder man orientiert sich am Klassenbegriff der Marx´schen Kritik der Politischen Ökonomie. Dann lässt sich die Negation der kapitalistischen Zumutungen allerdings nicht mehr als Standpunkt eines gemeinsamen Klasseninteresses fassen. In diesem Fall kommt man nicht umhin, die Frage der emanzipativen Perspektive neu zu denken.
Wir plädieren für diesen zweiten Weg. In unseren Augen bleibt der Klassenbegriff der Kritik der Politischen Ökonomie für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft unerlässlich. Genau aus diesem Grund haben wir aber mit dem neuen Hype um die Klasse massive Probleme.
Wer der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einem identitären Klassenkonzept zu Leibe rücken will, handelt sich eine Reihe von Problemen ein. Seit den Tagen der Arbeiterbewegung sind bekanntlich neue gesellschaftliche Konfliktfelder und Emanzipationsbewegungen aufgetaucht. Dazu zählt u.a. die feministische Bewegung, der Kampf gegen rassistische Diskriminierung und Homophobie und die Ökologiebewegung, um nur ein paar der wichtigsten zu nennen. Damit geraten die Vertreter eines identitären Klassenkonzepts in eine Zwickmühle. Entweder verhalten sie sich ignorant gegenüber den von diesen Bewegungen aufgeworfenen Fragen – der berühmt-berüchtigte Nebenwiderspruch lässt grüßen – oder sie versuchen, das Klassenkonzept anzupassen und diese Konfliktfelder als Teil der Klassenauseinandersetzung zu deuten. So sprechen einige von einer »ökologischen Klassenpolitik« und sogar von einer »queeren Klassenpolitik«. Diese Vorgehensweise ist natürlich wesentlich sympathischer. Allerdings hat sie einen Pferdefuß. Wer in die Bestimmung des Klasseninteresses Zusatzkriterien wie Antirassismus, Antisexismus etc. einführt, verabschiedet sich zwangsläufig von der klaren analytischen Bedeutung des Klassenbegriffs als Personifikation ökonomischer Kategorien. Das Klasseninteresse verkommt zu einem beliebigen Label für jede Form von Gegenwehr.
Das ist aber beileibe nicht das einzige Problem an der Wendung hin zu einer »neuen Klassenpolitik«. Das gemeinsame Klasseninteresse wird bemüht, um eine Einheit der emanzipativen Kämpfe herzustellen. Doch diese Einheit wird eher beschworen denn begründet. Denn schon wenn man lediglich das Verhältnis der verschiedenen Arten von Arbeitskraftverkäufern in den Blick nimmt, wird klar: Die zentrifugalen Kräfte, die die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse auseinandertreiben, sind heute viel stärker als die zentripetalen. Den Kernbelegschaften ist das Schicksal der Prekären gleichgültig. Die Interessen von Langzeitarbeitslosen und Beschäftigten streben auseinander. Sieht man über den einzelstaatlichen Tellerrand hinaus, fällt die Bilanz noch verheerender aus. Internationalismus war schon in den Hochzeiten der Arbeiterbewegung eine Angelegenheit für sozialistische Sonntagsreden. Die praktische Klassensolidarität beschränkte sich immer schon bestenfalls auf den nationalstaatlichen Rahmen. Der Globalisierungsprozess hat diesen Rahmen gesprengt, und das Kapital agiert als vaterlandsloser Geselle. Das führt aber auch nicht ansatzweise zu einer transnationalen Solidarität der Arbeitskraftverkäufer: Der deutsche Facharbeiter betrachtet den chinesischen Wanderarbeiter nicht als potentiellen Kampfgenossen, sondern als Schmutzkonkurrenz.
Diese Tatsachen kennen natürlich auch die Vertreter der »neuen Klassenpolitik«. Doch wer Emanzipation auf Klasseninteresse reimt, muss diese Gegensätze innerhalb der Klasse eigentlich für sekundär erklären. Dementsprechend bleibt klassenidentitären Linken nichts anderes übrig, als die Trübung des Klassenbewusstseins als das Grundproblem unserer Zeit zu behandeln. Durch eine geschickte Kapitalstrategie lasse sich die Arbeiterklasse über ihre wahren Interessen hinwegtäuschen und vergesse, sich gegen den seit Jahrzehnten tobenden Klassenkrieg des Kapitals zu wehren. Für so dumm halten wir die Arbeiterklasse nicht. Bereits die Vorstellung, dass aus gleicher Interessenlage ein »gemeinsames Interesse« folgen müsse, ist wenig überzeugend. Man denke nur an die Teilnehmer eines Autorennens. Alle wollen als erster über die Ziellinie. Genau aus diesem Grund wird der Misserfolg der anderen zur Voraussetzung des eigenen Erfolges.
Geht man hingegen vom analytischen Klassenbegriff aus, muss man nicht mit Hilfskonstruktionen hantieren wie der des angeblichen »Vergessens der wahren gemeinsamen Interessen«. Denn das Überhandnehmen der zentrifugalen Kräfte in der Arbeiterklasse hat strukturelle Ursachen. Es lässt sich letztlich darauf zurückführen, dass sich mit der Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte die Stellung der Ware Arbeitskraft im System des kapitalistischen Reichtums grundlegend verändert hat.
Bis in die 1970er-Jahre hinein war die lebendige Arbeit die mit Abstand wichtigste Produktivkraft. Im Zentrum der kapitalistischen Akkumulation stand die industrielle Mehrwertabpressung in relativ geschlossenen Nationalökonomien. Das Kapital war damit auf vergleichsweise homogene Armeen der Arbeit angewiesen. Diese Schlüsselstellung der Massenarbeit bildete die materielle Grundlage für die Erfolge der Arbeiterbewegung.
Die Verwissenschaftlichung der Produktion im Gefolge der dritten industriellen Revolution hat diese Konstellation indes unwiederbringlich zerstört und wachsende Teile der Arbeiterklasse in eine gegenüber dem Kapital prekäre Lage gebracht. Das Kapital vermag die verschiedenen Glieder der Produktionsketten über den Erdball zu verteilen und Lohnkostengefälle gnadenlos zu nutzen. Noch wichtiger ist der Aufstieg der Wissenschaft zur Hauptproduktivkraft. Mit ihm geht ein Bedeutungsschwund der lebendigen Arbeit für das Kapital einher. Gerade im Bereich der Schlüsseltechnologien kommen Riesenunternehmen mit homöopathischen Dosen an lebendiger Arbeit aus. Die beiden mit weitem Abstand umsatzstärksten Unternehmen dieser Welt, Microsoft und Apple, bringen es zusammen gerade einmal auf 250.000 Mitarbeiter weltweit. Vor allem aber ist die gesamte sogenannte Realwirtschaft zu einem Anhängsel der Finanzwirtschaft herabgesunken. Der Motor der Weltwirtschaft ist nicht mehr die industrielle Mehrwertabpressung, sondern die Vermehrung von fiktivem Kapital an den Finanzmärkten. Natürlich gibt es immer noch Lohnarbeitersegmente, auf die das Kapital dringend angewiesen bleibt und die deshalb eine starke Verhandlungsposition besitzen. Immer größere Teile der Arbeiterklasse leben aber unter dem Damoklesschwert der Substituierbarkeit. Solange der Arbeitskraftverkauf als unhintergehbare und selbstverständliche Grundlage unserer gesellschaftlichen Existenz akzeptiert bleibt, treiben die Interessen innerhalbder Arbeiterklasse immer weiter auseinander.
Die Beschwörung eines gemeinsamen Klasseninteresses aller Lohnabhängigen taugt nicht als Ausgangspunkt für einen Prozess der gesellschaftlichen Resolidarisierung. Soll der in Gang kommen, muss gerade die Abhängigkeit vom Zwang, Geld zu verdienen, ins Zentrum der Kapitalismuskritik gerückt werden. Die Lohnarbeit lässt sich freilich nicht isoliert infrage stellen. Die Befreiung von ihr lässt sich ohne die Befreiung des gesellschaftlichen Reichtums von der Warenform gar nicht denken. Eine auf universelle Emanzipation gerichtete Kapitalismuskritik müsste sich heute kein geringeres Ziel setzen als die Dekommodifizierung des gesellschaftlichen Reichtums.
Ist ein Antikapitalismus, der die Herrschaft der Ware problematisiert und attackiert, nicht völlig weltfremd? Wer das vermeintlich Selbstverständliche infrage stellt, stellt sich erst einmal diskursiv ins Abseits. Allerdings bietet diese Neuausrichtung auch einen großen Vorteil. Die systematische Unterscheidung von abstraktem Warenreichtum und sinnlich-stofflichem Reichtum eröffnet einen Zugang zu einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Konfliktfelder, die sonst als disparat erscheinen und gegeneinander ausgespielt werden. Eine Kritik der kapitalistischen Reichtumsform der Ware erlaubt es dagegen in der Sache Brücken zu schlagen. Dies sei anhand dreier Themen ausgeführt, die derzeit breit diskutiert werden und die Gemüter erhitzen: Der Unbezahlbarkeit des Wohnens, dem Problem der Arbeitszeit und dem des Klimawandels.
Ware Wohnen
In den letzten 40 Jahren sind in den kapitalistischen Kernstaaten die Preise für die Güter des täglichen Bedarfs insgesamt nur moderat gestiegen. Es gibt allerdings eine Ware, bei der das ganz anders ist – Wohnraum. Im gleichen Zeitraum sind die Preise für Wohnimmobilien und die Mieten weltweit explodiert, inzwischen auch im traditionellen Mieterland Deutschland. Diese Preisexplosion teilt die Gesellschaft in Profiteure und Verlierer. Das reicht den Liebhabern des identitären Klassenkonzepts, um die Wohnungsfrage zur Klassenfrage zu erklären. Allerdings hat das seinen Preis. Denn damit erhält das Wort Klasse sogar auf seinem ureigensten Gebiet, den ökonomischen Beziehungen, plötzlich zwei unterschiedliche Bedeutungen. Das klassische Klassenkonzept bestimmt die Arbeiterklassen bekanntlich über ihre Stellung im Produktionsprozess. Auf dem Feld des Wohnens geht es jedoch nicht um die Produktion, sondern um ein spezielles Konsumgut, das für breite Bevölkerungsteile unerschwinglich wird. Um aus der Wohnungsfrage eine Klassenfrage zu machen, muss man schon auf der Ebene der rein ökonomischen Klassenbestimmung inkonsistent argumentieren. Während die Klassenposition sonst immer über die Stellung zu den Produktionsmitteln begründet wird, ist beim Wohnen plötzlich diejenige zu den Konsumtionsmitteln entscheidend.
Über diese ins Auge springende Ungereimtheit hilft sich der identitäre Klassenbegriff assoziativ hinweg. Die Arbeiterklasse verfügt über keine Produktionsmittel, der Mieter verfügt über kein Wohneigentum. Da wie dort sind die Eigentumslosen die Verlierer. Außerdem überschneiden sich diese beiden Formen von Eigentumslosigkeit häufig und so unterliegt die subalterne Klasse eben einer doppelten Ausbeutung. Einmal in der Arbeit und dann nach der Arbeit, als Konsument.
Diese Argumentation bleibt aber aus mehreren Gründen unbefriedigend. Schon die Deckungsgleichheit der beiden Ausbeutungsformen haut nicht so richtig hin. Am ehesten übrigens noch in Deutschland, wo die Wohneigentumsquote in der Bevölkerung lediglich 45 % beträgt im Unterschied zu 70% im EU-Schnitt. Dass aber selbst in Deutschland etliche Lohnabhängige auch eigene vier Wände besitzen und der eine oder andere Manager auch zur Miete wohnt, ist noch das geringste Problem. Wichtiger ist, dass die Preise und Mieten für Wohnimmobilien nicht für sich allein explodieren. Bei fast allen Immobilienbooms der letzten 40 Jahre sind zusammen mit den Mieten für Wohnraum auch die für Büro- und Gewerberäume steil angestiegen, in der Regel sogar noch steiler. Auf all diesen Märkten tummeln sich aber überhaupt keine Lohnabhängigen. Stattdessen stehen sich dort fungierendes Kapital und Immobilienbesitzer als Käufer und Verkäufer, als Mieter und Vermieter gegenüber. Die Preisentwicklung beim Wohnraum trifft die breite Masse der Bevölkerung direkt. Deshalb steht sie in Deutschland zu Recht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und nicht die Mietpreisexplosion bei Büros und Gewerberäumen. Trotzdem muss eine tragfähige Analyse die Mietpreisexplosion in ihrem politökonomischen Kontext fassen, und das ist nun einmal das sämtliche Sektoren übergreifende Abheben der Immobilienpreise. Mit der Apostrophierung der in die Höhe schnellenden Wohnkosten als Klassenfrage ist aber der Blick auf diesen Zusammenhang verstellt.
Wir sehen in der Kollision von Warenreichtum und sinnlich-stofflichem Reichtum die grundlegende Konfliktlinie unserer Epoche. Betrachtet man aus dieser Perspektive die explodierenden Wohnraumpreise, ergibt sich ein überzeugenderer Zugang zu dem zu erklärenden Gesamtphänomen: Immobilien haben eine besondere Stellung im Warenuniversum. Sie sind gleichzeitig Güter des täglichen Bedarfs und Anlagegegenstand. Das ist aber für deren Preisbildung entscheidend. Die Wohnungsmieten explodieren, weil die Immobilienpreise und damit die Preise für neuen Wohnraum explodieren. Die Immobilienpreise gehen aber wiederum in erster Linie aufgrund der allgemeinen Entwicklung auf den Anlagemärkten durch die Decke. In dem Maß wie die Renditen bei den konkurrierenden Anlageformen sinken und vor allem die zinstragenden Papiere wenig bis nichts abwerfen, strömt massenhaft anlagesuchendes Kapital in den Immobiliensektor. Insbesondere wenn – wie in den letzten zehn Jahren – angesichts der Nullzinspolitik der Zentralbanken festverzinsliche Papiere nichts mehr abwerfen. Im Immobiliensektor steht dem wachsenden Kapitalzustrom eine unvermehrbare Naturressource gegenüber, nämlich Grund und Boden. Vermehrt sich der Geldkapitalzustrom, weil die Renditen anderer Anlageformen sinken, dann treibt das den Bodenpreis nach oben. Und sinken die Zinsen gegen Null, erklimmen die Bodenpreise schwindelerregende Höhen. Die steigenden Preise für die Naturressource Boden sind letztlich für die Unbezahlbarkeit des Wohnens verantwortlich. Wer heute in München für eine Eigentumswohnung 10.000 Euro pro Quadratmeter zahlt, zahlt 6000 Euro davon für den Boden.
Von einer Kritik der Ware aus betrachtet, entpuppt sich die heutige Wohnungsfrage im Kern als Bodenfrage. So verstanden, lässt sich eine Brücke von der hiesigen Mietpreisentwicklung zu anderen fatalen Entwicklungen in der Welt schlagen. Unmittelbar ins Auge springt etwa die Verbindung zum Phänomen des Landgrabbing. Vor allem in den Ländern der Dritten Welt steigen die Preise für landwirtschaftliche Nutzflächen, weil das anlagesuchende Kapital auch diese attraktive Ressource für sich entdeckt hat. Dadurch wird das Kleinbauerntum vernichtet; Millionen Menschen wehren sich verzweifelt gegen diesen Verlust ihrer Lebensgrundlage. Geht man vom Gegensatz von stofflichem Reichtum und abstraktem kapitalistischem Reichtum als dem Kernproblem unserer Epoche aus, liegt der enge innere Zusammenhang zwischen dem Schicksal eines indigenen peruanischen Kleinbauern und einer Mieterin in Marzahn auf der Hand. Es ist derselbe für die heutige Entwicklungsphase des warenproduzierenden Weltsystems charakteristische Mechanismus, dessentwegen der eine sein Land verliert und der anderen, 11.000 Kilometer entfernt, eine satte Mieterhöhung ins Haus flattert. Vom Standpunkt eines identitären Klassenkonzepts lässt sich demgegenüber nur deklamatorisch ein Zusammenhang zwischen beiden stiften. Entweder wird dem indigenen Kleinbauern und der Marzahner Mieterin irgendeine wolkige gemeinsame positive Klassensubjektivität zugeschrieben oder man zieht sich darauf zurück, dass die Herrschaft der Kapitalistenklasse letztlich die Quelle aller gesellschaftlichen Übel sei. Warum ausgerechnet heute unter den Bedingungen des finanzmarktdominierten Kapitalismus die Bodenfrage zu einer Überlebensfrage wird, können die Vertreter des identitären Klassenkonzepts nicht erklären.Um gesellschaftliche Ausstrahlung zu gewinnen, muss die Linke die Konfliktlinie zwischen emanzipativen Lösungen und dem kapitalistischen Irrsinn klar benennen können. Was das Wohnen angeht, trägt das identitäre Klassenkonzept dazu nichts bei. Rückt man dem Thema hingegen vom Standpunkt der Kritik der Ware zu Leibe, dann steckt die Konfliktlinienbestimmung implizit bereits in der Analyse und lässt sich leicht auf den Punkt bringen: Darf Grund und Boden weiterhin Privateigentum und handelbare Ware sein – mit der Folge, dass das elementare Bedürfnis nach adäquatem Wohnraum unerfüllbar wird? Oder ist der Boden aus der Reihe der möglichen Anlagegegenstände herauszunehmen und in gesellschaftliches Eigentum zu überführen?
Arbeitszeit
Zum unmittelbaren Lohnarbeiterinteresse gehört neben der Lohnhöhe auch die Frage der Arbeitszeit. Schon bei der Formierung der Arbeiterbewegung spielte die Forderung einer Arbeitszeitbegrenzung eine Schlüsselrolle. An ihrem Anfang stand in den 1830er-Jahren der Kampf gegen die Kinderarbeit und für den Zehnstundentag. Handelt es sich also wenigstens beim Kampf um Arbeitszeitverkürzung um Klassenkampf pur? Im 19. und 20. Jahrhundert hatte der Kampf um Arbeitszeitverkürzung in der Tat den Charakter eines Interessenkampfes der Lohnabhängigen und auch heute noch können Gewerkschaften – eine günstige Verhandlungsposition vorausgesetzt – die eine oder andere kleinere Arbeitszeitreduktion erkämpfen. Wie viel Sprengkraft gerade heute in der Arbeitszeitfrage steckt, wird aber erst sichtbar, wenn man über den bloßen Interessenstandpunkt hinausschaut und die Arbeitszeitfrage von vornherein mit allgemeinen gesellschaftlichen Fragen verbindet. Das betrifft nicht zuletzt das Problem der ökologischen Zerstörung.
Wie schon erwähnt, bedeutete die dritte industrielle Revolution einen Wechsel der Hauptproduktivkraft. Stand bis in die 1970er-Jahre hinein die Anwendung lebendiger Arbeit im Zentrum der Produktionsprozesse, so wurde nun die Anwendung der Wissenschaft zum eigentlichen Agens. Das Herausdrängen der Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess verändert aber nachhaltig die Bedeutung von Arbeitszeitverkürzungen. Im Zeitalter der industriellen Arbeitging es darum, den Arbeitskraftverkäufern neben einem monetären auch einen lebenszeitlichen Anteil an den »Rationalisierungsgewinnen« des Kapitals zu sichern. Die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft setzte durch, dass Arbeiter in ihrem Leben noch etwas anderes sein können als nur Arbeiter. Weil die Arbeit die Quelle allen Klassenstolzes war, wären sie aber niemals auf die Idee gekommen, deren Stellung als Zentrum ihres Daseins infrage zu stellen.1 Die heutige Diskussion über Arbeitszeitverkürzung muss aber darauf gerichtet sein, diese gesellschaftliche Norm anzugreifen und über den Haufen zu werfen.
Was den stofflichen Reichtum angeht, ist mit dem Aufstieg der Wissenschaft zur Hauptproduktivkraft die Produktivität geradezu explodiert. Auf dem heute erreichten Niveau ist es völlig irrwitzig, dass Menschen weiterhin 40 Stunden und mehr in der Woche mit Herstellung und Vertrieb irgendwelcher Dinge zubringen. Schon deswegen, weil in einer an den Bedürfnissen statt am Tauschwert orientierten Gesellschaft ein Bruchteil dieses Zeitaufwandes für diesen Zweck reichen würde. Irrsinnig aber auch noch in einer zweiten Hinsicht. Wenn weiterhin die explodierende stoffliche Produktivität in eine permanente entsprechende Vermehrung der Güterberge übersetzt wird anstatt in eine Vermehrung der »disponiblen Zeit«, dann führt das unweigerlich zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Angesichts der Produktivkraftentwicklung ist es also nicht nur keine Utopie mehr, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf fünf Stunden zu reduzieren. Eine Arbeitszeitreduktion in so einer Dimension hat sich längst in ein Gebot der ökologischen Vernunft verwandelt. Wie schon Marx betonte, bemisst sich der eigentliche gesellschaftliche Reichtum nicht in der Höhe der Güterberge, sondern in der den Individuen für ihre freie Entwicklung zur Verfügung stehenden Zeit. Diese Gesellschaft hat die Wahl. Entweder sie bestimmt in diesem Sinne den Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums neu. Das würde allerdings den Bruch mit der Herrschaft von Ware und Lohnarbeit voraussetzen. Oder sie hält an beidem fest und setzt ihren Kurs der Selbstzerstörung durch Arbeit fort.
Neben höheren Löhnen bleibt das Streben nach Arbeitszeitverkürzungen auch weiterhin Bestandteil des Klasseninteresses. Das Problem ist allerdings, dass es in diesem Rahmen bestenfalls nur noch um homöopathische Dosen gehen kann, die dem, was heute möglich und notwendig wäre, in keiner Weise angemessen sind. Dagegen sprengt eine radikale Arbeitszeitverkürzung, wie sie der Übergang zur »Wissensgesellschaft« auf die historische Tagesordnung setzt, den Klassenstandpunkt – es sein denn, man löst ihn vollständig von seiner politökonomischen Bedeutung ab. Solange man am analytischen Klassenbegriff festhält, statt ins Wolkenkuckucksheim der identitären Klassenvorstellung der »neuen Klassenpolitik« auszuweichen, liegt zweierlei auf der Hand: Zum einen bildet die Verkäuflichkeit der Ware Arbeitskraft die Grundlage des Klasseninteresses. Zum anderen steht und fällt die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse mit dem Organisations- und Beschäftigungsgrad. Solange die Arbeiterklasse sich an ihr besonderes Interesse klammert, ihre besondere Ware an den Markt zu bringen, stellt sie alles andere als die Vorhut der Emanzipation dar. Auch die kämpferischste Belegschaft und die »revolutionärste« Gewerkschaft werden, solange sie bei Sinnen sind, nicht ihre »eigenen« Betriebe kaputtstreiken. Schließlich hängt die Verkäuflichkeit ihrer Arbeitskraft von deren Fortbestehen auf dem Markt ab. Je mehr sich die Bedingungen der Kapitalverwertung verschlechtern, umso enger wird der Spielraum für den Klassenkampf. In der Aufstiegsphase des Kapitalismus konnten Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, die sich auf Klassenidentität und -interesse beriefen, Erfolge erzielen. In dem Maße jedoch, wie das Privatinteresse der Arbeitskraftverkäufer an die Grenzen des marktwirtschaftlich überhaupt noch Möglichen stößt, müssen Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, wollen sie erfolgreich sein, ihren bornierten Klassencharakter sprengen und die grundlegenden Strukturen der gesamten auf Kapitalverwertung beruhenden Wirtschafts- und Lebensweise in Theorie wie Praxis angreifen.
Das Interesse der Anbieter der Ware Arbeitskraft ist primär ein Interesse an möglichst hohen Einkommen. Dementsprechend tritt die Forderung im gewerkschaftlichen Kontext in der Regel kombiniert mit der Forderung nach »vollem Personal- und Lohnausgleich« auf. Aber worauf es wirklich ankommt, ist weder die Höhe des Einkommens noch die Anzahl der Arbeitsplätze, sondern der Zugang aller Menschen zu den Gebrauchsgütern, die sie für ein gutes Leben benötigen. Eine Bewegung für Arbeitszeitverkürzung auf der Höhe der Zeit muss sich deswegen in zweierlei Hinsicht radikal von ihren Vorgängerinnen unterscheiden: Sie muss sowohl die herrschende Art des Wirtschaftens prinzipiell infrage stellen als auch eine Arbeitszeitverkürzung in bisher ungekanntem Ausmaß fordern. Sie kann nur eine gesamtgesellschaftliche Bewegung sein, die die Fesseln des immer aussichtsloser werdenden »Einkommens« sprengen und stattdessen ein gutes »Auskommen« für alle etablieren will. Wenn etwa der Wohnraum ganz oder teilweise seines Warencharakters entkleidet wird, sinkt der Geldbedarf der Individuen ganz erheblich. Anstelle der Illusion vom »vollen Personal- und Lohnausgleich« muss eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei Ausstieg aus dem Lohnsystem und abstrakter Reichtumsproduktion und der Einstieg in die gesellschaftliche Aneignung und Selbstorganisation des stofflichen Reichtums treten.
Klima
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist schon aus Klimaschutzgründen unerlässlich.
Das Klasseninteresse der Arbeitskraftverkäufer steht der Dringlichkeit des Kampfes gegen den Klimawandel aberganz offensichtlich im Weg. Der legendäre Vorstandsvorsitzende von BMW, Eberhard von Kuenheim, brachte die Perspektivlosigkeit und das zerstörerische Potential der kapitalistischen Produktionsweise bereits in den 70er-Jahren, natürlich unbeabsichtigt, auf den Punkt. Gefragt, ob ihm denn nicht klar sei, dass man die ganze Welt nicht mit so vielen Autos wie in Westeuropa und Nordamerika zuschütten könne, antwortete er: »Es mag zwar zu viele Automobile auf der Welt geben, aber noch zu wenige BMWs«2 Nach dieser Logik müssen aber nicht nur die Manager sämtlicher anderer Automobilkonzerne reden und handeln, sondern auch die Gewerkschaften, Betriebsräte und die Lohnabhängigen, deren Lebensunterhalt davon abhängt, dass möglichst viele »ihrer« Produkte auf dem Markt abgesetzt werden. Dass »der ganze Laden irgendwann an die Wand fährt«, ist fast zu einer Art Allgemeinwissen geworden. Aber die systemimmanente Antwort darauf lautet: »Wir müssen weiter auf die Wand zurasen, weil unser Leben davon abhängt.« Die Zerstörung der Erde ist in diesem System programmiert. Der Standpunkt des Interesses der Arbeitskraftverkäufer weicht keinen Millimeter von dieser Logik ab.
Das ist auch der Grund dafür, warum eine Bewegung wie Fridays For Future regelmäßig an eine Gummiwand stößt, sobald es um Arbeitsplätze geht: »Wahrscheinlich habt ihr Recht und eigentlich sympathisiere ich ja mit euch, aber sagt mir doch mal, wovon meine Familie und ich in Zukunft leben sollen.« Der Kampf gegen den Klimawandel bedarf deswegen der Ergänzung durch einen breiten, weit über den klassischen gewerkschaftlichen Rahmen hinausgehenden gesamtgesellschaftlichen Kampf um radikale Arbeitszeitverkürzung. Gerade weil diese beiden Kämpfe ihre Ziele nicht im Rahmen der Logik der Kapitalverwertung und seiner immanenten Klasseninteressen verwirklichen können, könnten sie sich gegenseitig befeuern und eine enorme Sprengkraft entwickeln. Noch ist das den wenigsten der jeweiligen Akteure bewusst. So bleiben z.B. die zaghaften Annäherungsversuche von Gewerkschaften und Umweltverbänden der allerjüngsten Zeit in der Illusion befangen, Klimaschutz und »Vollbeschäftigung« gingen zusammen. Bedauerlicherweise wird in allen entsprechenden Initiativen die Frage der Arbeitszeitverkürzung und schon gar nicht diejenige der radikalen Arbeitszeitverkürzung, die heute möglich und nötig wäre, mitgedacht.
Nostalgie verliert
Vierzig Jahre neoliberaler Zurichtung haben tiefe Spuren hinterlassen. Vor allem der Individualisierungsprozess hat eine ganz neue Qualität angenommen. Während sich früher der keynesianische Interventionsstaat und kollektive Interessenvertretungen wie die Gewerkschaften zwischen den Weltmarkt und den Einzelnen schoben, haben wir es heute mit einer extrem atomisierten Konkurrenz zu tun, was natürlich auch das Denken und Fühlen prägt. Das stellt das emanzipative Lager vor eine extreme Herausforderung. Wie lässt sich in einer von Vereinzelung und Konkurrenz geprägten Gesellschaft, die in der Krise und einem galoppierenden Verwilderungsprozess steckt, ein Prozess gesellschaftlicher Resolidarisierung in Gang setzen? Diese Frage ist nicht zu beantworten ohne eine inhaltliche Neubestimmung des emanzipativen Ziels, die sowohl eine Antwort auf die fundamentale Krise des kapitalistischen Systems als auch des Bankrotts des Realsozialismus liefert.
Die Wiederentdeckung der identitären Klassenvorstellung ist eine Art Ersatzhandlung angesichts dieser historischen Aufgabe. Wer Klasse und Klassenkampf bemüht, kann den Anspruch erheben, sich zu den Konflikten unserer Zeit klar zu positionieren und dabei auf sicherem, weil irgendwie vertraut anmutendem Terrain verbleiben. Allein schon deshalb, weil derlei Begriffe ihrer Geschichte wegen einen linken Standpunkt signalisieren, verbreiten sie eine gewisse Heimeligkeit. Gleichzeitig umweht sie der Hauch des Revolutionären. Auf dieser Selbstvergewisserung beruht die Attraktivität des »neuen« Klassendiskurses wesentlich mit. Natürlich spielen bei der Wiederentdeckung der Klasse neben ihrer ererbten identitären Aufladung auch ehrenwerte Motive eine Rolle, insbesondere die Hinwendung zur sozialen Frage. Allerdings hat die Art der Hinwendung mehr mit Nostalgie zu tun als mit einer adäquaten Erfassung der heutigen Situation.
Mit dem Rekurs auf die Klasse wird die Erinnerung an eine bessere Vergangenheit abgerufen. Um die Linke und ihren Einfluss war es im Zeichen des Klassenkampfs in ferner Vergangenheit weit besser bestellt als heute. Ergo, so die implizite Hoffnung, verbessert sich mit dem Rückgriff auf die Klasse der Einfluss der Linken auch wieder. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich das identitäre Klassenkonzept noch auf so etwas wie eine »materielle« Grundlage stützen können. Im Zeitalter der großen Industrie und der Massenarbeit war das Hohelied auf das klassenstolze Proletariat ideologische Begleitmusik zu einer tatsächlichen Interessenkonvergenz breiter Schichten in den Verteilungskämpfen zwischen Kapital und Arbeit. Hinzu kam, dass die Arbeiterschaft bis tief ins 20. Jahrhundert hinein noch ein relativ homogenes Sozialmilieu bildete und dieser lebensweltliche Hintergrund die Entfaltung kollektiver Gegenmacht zum Kapital erleichterte. Diese Konstellation hat sich aber längst aufgelöst und das macht die »neue Klassenpolitik« zu einer reinen Luftnummer. Heute schließt die Beschwörung eines »gemeinsamen Klassenstandpunkts« Gruppen und Schichten, die in der kapitalistischen Wirklichkeit auseinanderstreben, nur noch phantasmagorisch zusammen. Das mag die identitätspolitischen Bedürfnisse von linken Gruppen befriedigen, trägt aber zur überfälligen Neuformierung des emanzipativen Lagers wenig bei.
Nicht dass sich mit der Beschwörung phantasmagorischer Großsubjekte heute nicht erfolgreich Politik machen ließe. Gerade angesichts der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der liberalen Demokratie hat diese Art von Identitätspolitik sogar Konjunktur. Mit ihrem Feldzug für die Wahnvorstellung eines ethnisch homogenen Volkes hat die Rechte einen erschreckenden gesellschaftlichen Einfluss gewonnen. Die Linke sollte sich aber davor hüten, die Rechte mit ihrer eigenen Waffe schlagen zu wollen und dem rechten Volkskonzept ein nur scheinbar neues, in Wirklichkeit längst von der Geschichte überholtes Klassenkampfkonzept entgegenzusetzen. Identitätspolitik ist zwar das As im Blatt der neuen Rechten, in der Hand der Linken verwandelt sich die identitätspolitische Karte aber in eine Lusche. Das hat einen einfachen Grund. Angesichts der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der liberalen Demokratie stehen das rechte und das linke Lager mehr denn je für völlig unterschiedliche Versprechen. Die Rechte liefert der Unzufriedenheit von eingefleischten Konkurrenzsubjekten mit den Ergebnissen der globalen Konkurrenz ein Ventil, indem sie für die Resultate die »volksvergessenen« Eliten verantwortlich macht und zum Halali auf »volksfremde« Elemente bläst. Für diesen verheerenden historischen Bullshit-Job ist die Anrufung eines kulturalistisch gedachten Volkes wie gemacht. Diese erlaubt es der Rechten, als Anwalt des gesunden Volksempfindens gleichzeitig den Geist der entfesselten Konkurrenz und Rücksichtslosigkeit zu bedienen und den Traum von der Überwindung der Vereinzelung.
Die Linke repräsentiert dagegen den Traum von einem guten Leben für alle. Ihr Einfluss steht und fällt damit, ob es ihr gelingt, dieses Versprechen plausibel zu machen oder nicht. Was das angeht hat der neue Rekurs auf die Klassenpolitik aber den Nährwert von Styropor. Wenn die Rechte im Zeichen von Nation und Volk mobilisiert und die Linke im Zeichen der Klasse, kann man absehen, wer als Sieger vom Platz gehen wird.
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1Ein in den 1960er-Jahren während der Kampagne für die Fünftagewoche weit verbreitetes Gewerkschaftsplakat bringt diese Ausrichtung schön auf den Punkt. Dort war ein kleiner Junge abgebildet, dem der Satz in den Mund gelegt wurde: »Samstag gehört Vati mir«. Wenn Vati am Samstag Sohnemann gehören soll, dann ist damit implizit mit gesagt, wem er unter der Woche legitimerweise gehört, nämlich der Firma.
2 Bayernkurier 07.03.2016, online: https://www.bayernkurier.de/wirtschaft/11379-eine-weltmarke-wird-100
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Ernst Lohoff ist freier Autor und Redakteur der Zeitschrift krisis. Lothar Galow-Bergemann ist langjähriger Gewerkschafter. Er schreibt auf Emanzipation und Frieden.