§219a oder: Das gute Gewissen von Abtreibungsgegnern

Ein kurzer Kommentar zu Jens Spahn&Co

von Jonathan C. Brehmer

In letzter Zeit ist viel von Leben die Rede. Genauer gesagt von menschlichem Leben und seinem Wert, den es zu verteidigen gelte: „Selbst wenn ein Mensch noch nicht geboren ist, hat sein zukünftiges Leben bereits einen Wert. Eine Abtreibung zerstört dieses kostbare menschliche Leben.“

Es gibt sowohl gute Argumente für als auch gegen Abtreibungen und eigentlich sollte längst selbstverständlich sein, dass das die Frauen selbst zu entscheiden haben. Es ist aber schon verwunderlich, wie auf einmal wieder manche Leute ihr Herz entdecken und glauben, menschliches Leben schützen zu müssen. Ging es doch gerade noch um Tafeln, Hartz IV und Flüchtlinge. Merkwürdigerweise blieb hier der große Aufschrei aus. Eine Lösung wurde ohnehin nicht präsentiert. Keiner müsse leiden, allen gehe es gut, man jammere auf hohem Niveau oder versuche nur, die Rechte anderer zu beschneiden und gleich das ganze Sozialsystem eines Staates schamlos auszunutzen unter dem Vorwand, Flüchtling zu sein. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Dieselskandal? War da nicht was mit Luftverpestung in den Städten, durch die wahrscheinlich hunderttausende eine verkürzte Lebensdauer haben werden – abgesehen von der schlechten Lebensqualität dank Gestank und Lärm? Ach nein, die armen Autofahrer werden nur betrogen. Rüstungsexporte? Werden nicht wissentlich Waffen an kriegführende Despoten geliefert und massenhaft Tod und Vertreibung in Kauf genommen? Ach nein, wenn die deutsche Wirtschaft keine Panzer liefert, macht es eben ein anderer – schützen wir also lieber unsere Arbeitsplätze!

In einer Welt, in der sich Elend, Gewalt, Ressourcenkämpfe und brutaler Egoismus so schnell ausbreiten, ist es zynisch, sich über eine Abtreibung aufzuregen. Manch selbsternannte Menschenrechtler und Ethiker, darunter auch führende Politiker, scheinen sehr große Ehrfurcht vor Leben zu haben, das es noch nicht gibt. Geht es jedoch um bereits lebende Menschen, zeigen sie eine sozialdarwinistische Einstellung, die Menschlichkeit ökonomischer Rationalität unterordnet. Soll doch jeder selbst schauen, wo er bleibt. Kinderarmut? Sozialer Abstieg? Leben am Existenzminimum? Marode Gesundheitsversorgung? Verfolgung, Krieg und Ausbeutung? Sollen die Schwachen bitte alleine bewältigen! Und nicht noch anderen auf der Tasche liegen.

Aber ein ungeborenes Kind, dessen Mutter vielleicht selbst bereits in der Armutsfalle sitzt, dessen Zukunftschancen und dessen Bildungsweg vorgezeichnet sind, ein Kind, das ohne Vater aufwachsen wird und vielleicht schon fürs Jugendamt prädestiniert ist, weil die werdende Mutter gar keine Mutter werden will – es muss geboren werden! Alles andere sei schließlich unmenschlich. „Man soll nicht Gott spielen“ heißt es in diesem Zusammenhang oft. Man dürfe nicht eingreifen in die Natur, sich nicht über menschliches Leben erheben. Schicksalsgläubigen mag dieses Argument genügen. Man sollte aber auch nicht Teufel spielen, Frauen ein schlechtes Gewissen machen und sie dazu zwingen, gegen ihren Willen eine Entscheidung zu treffen, die für alle Beteiligten mit höchster Wahrscheinlichkeit schmerzhafte und mindestens entbehrungsreiche Folgen haben wird. Sollte das Kind dann nach Lesart von Spahn&Co „dem Sozialsystem auf der Tasche liegen“, könnte es wohl kaum mit deren weiterer Empathie rechnen. Schließlich wäre es ja nicht mehr ungeboren. Das gute Gewissen der Akteure aber würde dadurch nicht beschädigt.