CDU und AfD – finde den Unterschied

Kommunalwahl in Stuttgart

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 687 am 29. Mai 2024)

In den nächsten Jahren verliert Stuttgart voraussichtlich zwei Drittel seiner Unterbringungsplätze für Geflüchtete. Fast alle im Gemeinderat bekennen sich zur gesetzlichen Verpflichtung, zu helfen. Die CDU liegt allerdings auf einer Linie mit der AfD.

Es sind Worte wie aus einer anderen Welt: Der Umgang mit Geflüchteten tauge in Stuttgart nicht als Wahlkampfthema, berichtete die „Stuttgarter Zeitung“ vor einem Jahrzehnt, als Kommunalwahlen anstanden. Das städtische Handeln sei bei diesem Thema „von einem breiten Konsens der Ratsfraktionen getragen, auch als es zuletzt um den Neubau von Unterkünften für die wachsende Zahl von Flüchtlingen ging“, hieß es damals. Und Autor Mathias Bury bilanzierte: „Diese Einmütigkeit ist ein wichtiger Grund für die Erfolge auf diesem Politikfeld.“

Tatsächlich gab es im Rathaus einmal eine parteien- und ideologieübergreifende Zusammenarbeit, wenn es darum ging, schutzsuchenden Menschen eine Zuflucht zu bieten. Doch der breite Konsens ist inzwischen aufgekündigt. Die AfD hat ihn nie mitgetragen, seitdem sie 2014 erstmals in den Gemeinderat der Landeshauptstadt eingezogen ist. Das blieb jedoch lange die Außenseiterposition. Trotz der immensen Herausforderungen, die sich durch die 2015 und 2016 extrem angestiegene Zahl von Menschen ergeben hatten, die in Deutschland Asyl suchten, war für die demokratischen Parteien im Stuttgarter Rathaus klar: Die humanitäre Verpflichtung zu helfen steht nicht zur Debatte. Oder in den Worten der Stuttgarter CDU: Wer „in der Heimat etwas Schlimmes erlebt“ habe, verdiene es, „hierzulande Schutz zu finden und ein menschenwürdiges Leben führen zu können“. Die Partei unterstützte daher „nachdrücklich die rasche Erstellung von Flüchtlingsunterkünften“.

Diese war auch nötig. Nach 2013 hat sich die Anzahl von Geflüchteten in Stuttgart in nur drei Jahren mehr als verzehnfacht, von 800 Menschen auf 8.200 im Jahr 2016. Zwischenzeitlich ist viel Schulsport ausgefallen, weil aus Turnhallen Notunterkünfte wurden. Neben diesen Improvisationslösungen in kürzester Zeit setzte die Stadt zudem mittelfristig auf sogenannte Systembauten. Diese haben den Vorzug, dass sie schnell genehmigt und gebaut werden können – und den Nachteil, dass ihre Lebensdauer auf zehn Jahre angelegt und befristet ist. Ohne Verlängerung der Nutzungsdauer müssen sie abgerissen werden. Die Deadline rückt näher.

Nach Auskunft der Stadtverwaltung verfügen die 24 Systembauten in Stuttgart über 3.700 Unterbringungsplätze. Diese werden voraussichtlich bis Ende 2026 größtenteils verschwunden sein. Eine verwaltungsinterne Prüfung läuft, ob die Genehmigungsfristen im Einzelfall verlängert werden können. Nach Kontext-Informationen wird das jedoch bei mindestens 15 der Systembauten als aussichtslos eingeschätzt. Parallel dazu fallen weitere Unterkünfte weg. Ohne Gegenmaßnahmen reduzieren sich die Unterbringungskapazitäten in den nächsten sieben Jahren um 69 Prozent. Das geht aus einem Bericht der Stadtverwaltung hervor, über den der Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen im vergangenen Oktober diskutierte. Laut Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann (Grüne), die dem Gremium vorsitzt, sei beim Thema Flüchtlingsunterbringung ein „Stimmungswandel in der Bevölkerung“ festzustellen, die Herausforderungen seien groß. Nichtsdestotrotz stehe die Verwaltung „zur gesetzlichen Aufgabe und der humanitären Verpflichtung, nach Stuttgart kommende geflüchtete Menschen gut aufzunehmen und unterzubringen“.

Die Aussage ist auch als Hinweis an die CDU zu verstehen. Die hat ebenfalls einen Stimmungswandel in der Bevölkerung festgestellt und will geflüchtete Menschen jetzt nicht mehr gut aufnehmen und unterbringen. „Keine weitere Schaffung von Flüchtlingsunterkünften und keine Belegung von Sporthallen“, heißt es in ihrem Programm zur Kommunalwahl am 9. Juni 2024. Stuttgart solle auf Deutschland und Europa einwirken, um „den unkontrollierten Zustrom nach Deutschland schnellstmöglich auf ein Minimum zu reduzieren“. Stadtrat Markus Reiners, sicherheits- und sportpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, sagt, die Stadt Stuttgart sei „hinsichtlich der Unterbringung Geflüchteter nicht an der Grenze zur Überlastung, sondern schon deutlich darüber“. Er fordert daher auch, dass „konsequenter geprüft wird, wer überhaupt nach Deutschland kommt und wer einen Anspruch hat, hier zu bleiben“.

Kluger Tipp: frühzeitig vorausschauen

Inhaltlich und rhetorisch liegt das auf einer Linie mit der AfD. Diese weist in ihrem Wahlplakat – im Gegensatz zur Union – allerdings darauf hin, dass „Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern gesetzlich vorgeschriebene Pflichtaufgaben sind“. Einen Aufnahmestopp fordert die AfD trotzdem und bemüht in diesem Zusammenhang ebenfalls das Märchen von „der ungesteuerten Massenmigration“. Dabei ist die europäische Außengrenze längst zur tödlichsten der Welt geworden – im Bemühen, den Zustrom schnellstmöglich auf ein Minimum zu reduzieren. In Stuttgart hat sich dieser Kurs auch bemerkbar gemacht: Sechs Jahre in Folge sank die Zahl der Geflüchteten in der Stadt, zum Jahresbeginn 2022 waren es noch 4.300 Menschen.

Dann kam der russische Angriff auf die Ukraine, durch den Millionen ihre Heimat verloren, und die Zahl der Schutzsuchenden erreichte einen neuen Höchststand von aktuell 10.000 Menschen. Die Stadt hat einen guten Überblick, um wen es sich handelt und was diese Menschen erlebt haben, weil konsequent geprüft wird, wer überhaupt nach Deutschland kommt und ob die Gekommenen einen Anspruch haben, hier zu bleiben. Im Vergleich zu den teils chaotischen Zuständen von 2016 funktioniert die Unterbringung trotz der Rekordzahl von Geflüchteten aktuell deutlich besser.

Es sei Stuttgart „in der Vergangenheit ziemlich geräuschlos gelungen“, viele Menschen gut unterzubringen, sagte die grüne Stadträtin Marina Silverii bei der Präsentation des Verwaltungsberichts im Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen. Bedauerlich sei jedoch, dass man „nicht frühzeitig vorausschauend für weitere Unterkünfte und Plätze in Stuttgart gesorgt“ habe, weswegen man sich nun in einer „äußerst schwierigen Situation“ befinde.

7.000 Unterbringungsplätze müssten innerhalb der nächsten sieben Jahre gesichert werden, allein um das gegenwärtig vorhandene Niveau aufrechtzuerhalten. Die Stadtverwaltung betont allerdings, dass Migrations- und Fluchtbewegungen „heute global gesehen die Regel und nicht die Ausnahme“ seien. Angesichts der „nicht vorhersehbaren Flüchtlingszahlen“, bei denen tendenziell von einer Zunahme auszugehen ist, regt die städtische „Task Force Flüchtlingsunterbringung“ an, auf flexible Modelle zu setzen: Einmal, indem die Verwaltung generell die Anzahl von neuen Wohnungsneubauten für alle Menschen in Stuttgart steigert. Und zudem durch sogenannte Modulbauten, die nun an Stelle der kurzlebigen Systembauten empfohlen werden, weil sie bis zu 30 Jahre benutzt werden können, nachhaltiger sind und das Land Baden-Württemberg Fördermittel dafür bereitstellt.

CDU-Bürgermeister belehren CDU-Fraktion

Noch ist die Errichtung neuer Flüchtlingsunterkünfte im Stuttgarter Gemeinderat mehrheitsfähig. Im vergangenen März beschloss das Gremium, 672 zusätzliche Unterkunftsplätze überwiegend in Modulbauweise zu schaffen. Und im Gegensatz zur CDU-Fraktion erklärte der CDU-Finanzbürgermeister Thomas Fuhrmann sachorientiert: „Diese Plätze sind dringend erforderlich. Wir haben immer noch einige Tausend Menschen in Notunterkünften, und es ist mit weiteren Zuweisungen zu rechnen.“ Auch CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper hat die CDU-Fraktion bereits im vergangenen Juli aufgeklärt: „Wir sehen keine rechtliche Möglichkeit, dass die Landeshauptstadt Stuttgart die Aufnahme von Flüchtlingen verweigert.“

Doch der frühere breite Konsens, bei der Unterbringung Hilfesuchender konstruktiv nach Lösungen zu suchen und das Parteikalkül zurückzustellen, bröckelt weiter. Von 61 Stimmberechtigten im Stuttgarter Rat waren im vergangenen März 16 gegen neue Unterkünfte: alle Stadträt:innen der CDU, der AfD sowie zwei von vier der Freien Wähler. Letztere verfolgen bislang keinen generellen Verweigerungskurs, kritisierten aber die Auswahl der Standorte.

Sollten sich die Mehrheitsverhältnisse bei der anstehenden Kommunalwahl grundlegend verschieben und in der Folge keine neuen Unterkünfte mehr geschaffen werden, müsste die Stadt auf weitere Formen der Notunterbringung zurückgreifen, also Hotels, Turnhallen und gegebenenfalls beheizte Zelte. Die CDU weiß das natürlich genau und nimmt es, so scheint es, billigend in Kauf. Denn wenn dann dramatische Bilder der entstehenden Zustände kursieren, ließe sich das ja gebrauchen, um das Argument einer angeblichen Überlastung zu unterfüttern.

Immerhin: Die Mehrheit im Rat hat Anstand – noch

Zum Glück ist aber ein Großteil der Parteien und Listen, die zur Wahl antreten, seriös genug, nicht mit der Sabotage einer kommunalen Pflichtaufgabe auf Stimmenfang zu gehen: Die im aktuellen Gemeinderat vertretenen Grünen (14 Sitze), SPD (7), FDP (4), Stuttgarter Liste (3), SÖS (2), die Linke (2), Stadtisten (2), „Die Partei“ (1), Piraten (1) und Tierschutzpartei (1) halten einen guten Umgang mit Menschen in Not nicht nur für eine gesetzliche, sondern auch für eine humanitäre Verpflichtung. Ein Mindestmaß an Anstand ist also kein unumstrittener Konsens mehr, aber zumindest für große Teile der Gesellschaft und ihrer politischen Repräsentant:innen nicht verhandelbar.

Mit wem die Stuttgarter CDU nach dem 9. Juni Mehrheiten bilden will, ist indessen offen. Wo sie den Hauptfeind verortet, macht ihr Wahlkampf ziemlich deutlich. So heißt es auf den Plakaten: „Die schlimmste Baustelle Stuttgarts? Der Grün-Linke Gemeinderat“, „Gesunder Menschenverstand statt Grün-Linker Bevormundung“, „Schluss mit der Grün-Linken Mehrheit!“ oder auch „Grün ist nicht das neue Schwarz. Komm aus deiner linken Ecke!“. Derweil hat der CDU-Fraktionsvorsitzende Alexander Kotz klar gemacht, dass er zwar keine Kooperation mit der AfD anstrebe, aber nichts Verwerfliches daran erkennen könne, falls diese für CDU-Anträge stimme. Angeblich – so zitiert die „Stuttgarter Zeitung“ Kotz – wollten die Menschen den „politischen Wechsel durch eine starke Union mit klarem Kompass“.

Kommunale Pflichtaufgabe

Die Erstverteilung von Asylsuchenden auf die Bundesländer der Republik erfolgt nach dem Königsteiner Schlüssel, der neben der Bevölkerungszahl auch das Steueraufkommen berücksichtigt. Demnach ist Baden-Württemberg für die Unterbringung von etwa 13 Prozent aller Asylsuchenden verantwortlich. Nach einer erkennungsdienstlichen Behandlung und Gesundheitsuntersuchungen in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung erfolgt eine Verteilung auf die Stadt- und Landkreise Baden-Württembergs. Die Zuteilungsquote ergibt sich dabei aus dem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung, Stuttgart werden 6,74 Prozent der Asylbewerber:innen in Baden-Württemberg zugewiesen. Die Unterbringung dieser Menschen ist eine kommunale Pflichtaufgabe.  (min)