Michael Wilk: Reales Leid und deutsche Sorgen

von Minh Schredle

Der Notarzt Michael Wilk hilft in Kriegsgebieten wie Nordsyrien und leidet darunter, was hierzulande über Fluchtgründe erzählt wird. Dieses Wochenende warnt er in Stuttgart vor einem “massiven Faschismus-Problem”.

Manchmal, da sei der Kontrast zwischen den Welten schwer auszuhalten, berichtet Michael Wilk. Im Berufsleben arbeitet er als Notfallmediziner und Verhaltenstherapeut, in seiner Freizeit auch. Dann aber nicht in Deutschland, sondern in Krisen- und Kriegsgebieten. Schwerste Verletzungen zu behandeln macht ihm nicht zu schaffen, “dann wäre ich im falschen Beruf”. Vielmehr sind es die humanitären Katastrophen, die er auf der einen Seite sieht – und dem, was deutsche Politiker in letzter Zeit so über Flüchtlinge erzählen.

Wilk lernte zunächst Schmied und Schlosser, absolvierte dann ein Medizinstudium, bildete sich unter anderem zum Notarzt und Schmerzspezialisten fort und ist heute froh, dass er es sich leisten kann, ein paar Wochen im Jahr ohne Lohn zu behandeln. Seit 2014 ist er regelmäßig im nordsyrischen Rojava, einer Region die erst ein Bürgerkrieg, dann der Terror des Islamischen Staats und zuletzt die türkische Invasion unter Präsident Erdoğan zerrüttet haben. Hunderttausende verloren ihre Heimat. Nicht nur Wohnblocks und Schulen liegen in Trümmern, Teile der Infrastruktur sind schwer beschädigt, auch die Wasser- und Energieversorgung. Als Wilk 2023 in der Stadt Kobanê war, fielen ihm die lädierten Wände im Rathaus auf. Darin waren Einschusslöcher, weil das Gebäude nur wenige hundert Meter entfernt von den Militärposten an der türkischen Grenze steht und immer wieder willkürlich geschossen wird. 

Manchmal behandelt er Kinder mit Beinschuss. Eigentlich, findet Wilk, hätten die Menschen in Nordsyrien Unterstützung verdient, immerhin haben sie ganz wesentlich dazu beigetragen, den IS zu besiegen. Dem Wiederaufbau steht allerdings im Weg, dass die Türkei ein Nato-Mitglied ist und Flüchtende von Europa fernhalten soll – obwohl das Erdoğan-Regime “immer wieder mit Drohnen und Kampfflugzeugen Jagd auf Menschen in Rojava macht”, kritisiert Wilk. Dadurch entstehe die groteske Situation, dass ein Autokrat, der Menschen zur Flucht zwingt, Millionensummen von Deutschland und der EU bekommt, damit er Menschen von der Flucht abhält. Parallel dazu stellt CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz Asylsuchende als Privilegierte dar: “Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.”

Die AfD als Spitze des Eisbergs

Weil sich Spitzenpolitiker:innen fast aller Parteien mit Abschiebeforderungen überbieten und die Verharmlosung von Fluchtgründen längst Volkssport ist, könnte man Wilk zufolge von einem “weit verbreiteten Empahtiemangel” sprechen. Der Mediziner hält kurz inne und schiebt dann hinterher, dass er das für einen Euphemismus hält. Denn eigentlich ist für ihn klar: “Wir haben letztendlich kein Problem mit Geflohenen. Wir haben in der BRD ein ganz massives Faschismus-Problem.”

Besonders erschreckend findet er, dass es gar keine Regierungsbeteiligung der AfD gebraucht hat, um ihre migrationspolitischen Forderungen in die Praxis zu überführen: Statt einer unkontrollierten Massenzuwanderung, von der der bundesdeutsche Diskurs gerne halluziniert, haben Deutschland und Europa seit 2015 massiv den sogenannten Grenzschutz aufgerüstet, bestehende Fluchtrouten geschlossen, Pushback-Aktionen im Mittelmeer gestartet und viel Geld in die Kooperation mit Autokraten investiert, damit die stark kontrollierte Massenflucht notfalls in Folterlagern endet, bevor den Menschen hierzulande Asyl gewährt wird. Viele Deutsche sind überzeugt, dass es jetzt endlich mehr Härte braucht in der Migrationspolitik.

“Die AfD ist sozusagen die Spitze des Eisbergs. Aber wir haben eine breite nationalchauvinistische, populistische Strömung in Deutschland”, meint Wilk, und verweist auf “eine dicke, lange Geschichte von rassistischen, nationalistischen, faschistischen Tendenzen”, die es lange vor der Parteigründung 2013 gab. Die AfD sei nun ein Taktgeber, aber beim Transportieren menschenfeindlicher Inhalte in die breite Gesellschaft handle es sich leider um kein Alleinstellungsmerkmal.

Für Wilk bedeutet das, sich an einem schwierigen Spagat versuchen zu müssen. Einerseits ist da mit der AfD eine zutiefst rassistische Partei, die ihre Absichten klar zu erkennen gibt und vielleicht gerade deswegen immer beliebter wird. Andererseits gibt es “einen Parlamentarismus, der – um es vielleicht so auszudrücken – vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte unschwer das beste aller politischen Herrschaftssysteme ist, die wir bis jetzt hatten”, der zugleich aber so viele Missstände hervorbringt, dass auf Kritik daran nicht verzichtet werden sollte. Zu seinem Leidwesen beobachtet Wilk, dass aber auch große Teile der eigentlich antiautoritären, radikalen Linken wie gelähmt sind in ihrer Kritik am Staat, vielleicht auch aus der Angst, dass diese den falschen in die Hände spielen könnte: “Insofern gefällt mir das Motto der Kundgebung demnächst in Stuttgart besonders gut.”

Abnehmspritzen für Arbeitslose

Am 26. Oktober ist der Arzt eingeladen, auf dem Stuttgarter Schlossplatz zu reden, das Motto lautet: “Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie” (siehe Kasten). Für die Organisation verantwortlich zeigt sich das “Netzwerk gegen rechts”, das sich gegründet hat, um faschismuskritische Kräfte lagerübergreifend zu vernetzen. “Seit der ersten Aktion unseres Netzwerk-Teams ist nur ein Jahr vergangen – und die rechtsextreme Bedrohung hat inzwischen drastisch zugenommen”, heißt es auf der Website.

Wie sich die gesellschaftliche Stimmung nicht nur in Deutschland verschiebt, zeigt sich laut Wilk besonders deutlich am ablehnenden Umgang mit Hilfesuchenden. Auch allgemein verschärfe sich der Ton. Und wer sich schon einmal mit Faschismus beschäftigt habe, wisse, dass es nicht nur Zugewanderte trifft, wenn er an die Macht kommt. “Zuerst geht es gegen Geflohene. Die Nächsten sind Leute mit Behinderung und solche, die arm sind. Menschen, die auf eine Stütze angewiesen sind. Was allein da für eine Hetze läuft, die Leute wieder zur Arbeit zu zwingen, ist bezeichnend.” Als Beispiel nennt Will die jüngste Idee des britischen Premiers Keir Starmer, zugleich Vorsitzender der sozialdemokratischen Labour-Partei, übergewichtigen Arbeitslosen Abnehmspritzen zu verabreichen, damit sie sich wieder nützlich machen können. Den Arzt ärgert der Vorschlag nicht nur, weil er auf einer menschlichen Ebene erbärmlich ist, sondern obendrein auch noch medizinisch absurd.

Die weltweiten Tendenzen hin zu einem enthemmten Konkurrenzdenken, das Hilfsbedürftige zu Schmarotzern erklärt, laufen in der radikalisierten Extremform darauf hinaus, sich dieser Lasten zu entledigen. Für Wilk ist es eine Verpflichtung, sich dagegen zu positionieren. Er selbst benennt die portugiesische Nelkenrevolution von 1974 und die frühen Anti-AKW-Proteste als zentrale Momente seiner Politisierung. Seit dieser Zeit ist er im antiautoritär-anarchistischen Flügel der Ökologiebewegung aktiv. Und er bezeichnet es als schlechten Scherz, dass sich manch ein politischer Akteur noch heute für ein Revival der Kernenergie stark macht, obwohl selbst die Energie-Industrie sage: “Davon lassen wir die Finger, das ist teuer, das ist ineffizient und die Konsequenzen des Atommülls sind völlig unkalkulierbar.” Aber es passe zu Debatten, in denen die empirisch erfahrbare Wirklichkeit weniger wichtig ist als das Bauchgefühl.

Potenzial für sinnvolle Proteste

Allerdings gab es erst kürzlich auch eine Bewegung, die sich auf wissenschaftliche Fakten gestützt hat und nun ganz schön frustriert ist: Die jungen Klimaaktivist:innen, denen heute kaum noch jemand zuhören möchte, obwohl oder gerade weil sich die Schäden der Erderhitzung immer deutlicher bemerkbar machen. 2020 hatte die “Süddeutsche Zeitung” noch Geduld angemahnt, es sei nicht wahr, dass “praktisch nichts” vorangehe, denn: “Klimaschutz fällt nun mal nicht vom Himmel, sondern muss mühevoll ausgehandelt werden.” Vier Jahre später haben viele, die sich eingesetzt hatten, resigniert.

Ein langer Atem ist wichtig und das Aufgeben darf keine Option sein, betont Wilk. In dem Sinne sieht er es als positives Zeichen, dass die Klimabewegung Millionen von Menschen auf die Straße gebracht hat und dadurch sichtbar wurde, wie groß das Potenzial für sinnvolle Proteste sein kann. Ähnlich wie zahlreichen Aktionen gegen die AfD im Frühjahr, die dem Arzt zufolge zeigen: “Bei allen erschreckenden Entwicklungen gibt es schon noch Menschen mit ethisch-moralischen Mindestansprüchen. Die müssen zusammenhalten.”


Für eine bessere Demokratie

Am Samstag, den 26. Oktober möchte das Stuttgarter Netzwerk gegen Rechts mit einer Kundgebung Gelegenheit schaffen, sich beim Engagement gegen den erstarkenden Faschismus zu vernetzen, sich zu informieren und Kontakte zu knüpfen. Los geht es um 14 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz. 

Neben Michael Wilk sind Wortbeiträge von den afghanischen Menschenrechtsaktivist:innen Jama Maqsudi (Kontext berichtete) und Najia Ahmad geplant, auch Ulrich Bausch von Initiative Aufbruch zum Frieden (Kontext berichtete) spricht. Lena Spohn vom Staatstheater Stuttgart berichtet über rechte Versuche, Kunst und Kultur zu vereinnahmen, der Satiriker und Kontext-Kolumnist Cornelius W. M. Oettle lobt den Autoritarismus. Moderiert wird die Veranstaltung von Maike Schollenberger, stellvertretende Verdi-Landesbezirksleiterin und Kontext-Kolumnist Joe Bauer.

Trotz personeller Schnittmengen ist Kontext nicht an der Organisation beteiligt.  (min)

[zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 708 am 23. Oktober 2024]