Offen für alles

Beim „Bürgergipfel” in Stuttgart finden sich sowohl rechtspopulistische als auch Querfronttendenzen

Zusammen mit „produktiven Bürgern“ will Unternehmer Oliver Gorus Aufbruchstimmung erzeugen und Deutschland retten. Zu seinem Bürgergipfel in der Stuttgarter Liederhalle kommen nicht nur Rechtspopulist:innen. Es gibt auch Querfronttendenzen.

von Minh Schredle

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel der Kontext:Wochenzeitung 699 vom 21.08.2024. Für Emafrie und Krisis wurde er überarbeitet und erweitert.

Letzten Winter hat Oliver Gorus eine Beobachtung gemacht: „Eigentlich vernünftige Leute sahen nur noch schwarz“, schreibt er, und fasst das, was er so gehört hat, wie folgt zusammen: „Das Land sei nicht mehr zu retten. Die Politiker seien ja doch nur Marionetten (…). In Wahrheit würden finstere Finanzoligarchen regieren, die den Untergang der Nationalstaaten in Mitteleuropa beschlossen hätten. Der totalitäre europäische Superstaat mit totaler Kontrolle und digitalem Zentralbankgeld komme sowieso. (…) Die Linken würden sowieso keine freien und ungefälschten Wahlen mehr stattfinden lassen. Wir würden in einer Demokratiesimulation leben (…). Und in ein paar Jahrzehnten würden hier ohnehin nur noch Immigranten leben, die europäischen Völker seien dem Untergang geweiht. Unausweichlich.“

Was Gorus an diesen Analysen stört, ist der Fatalismus. Er stimmt zu, dass die deutsche Wirtschaft auf Talfahrt sei, „unsere Länder“ sich auf einem „schlüpfrigen Pfad abwärts“ befänden, „wir sind infiziert vom neomarxistischen Gedankenvirus“. Karrierepolitiker hätten „eine neue arrogante Fürstenklasse gebildet“, die Parteien seien „das Problem, nicht die Lösung“ und die „Staatsfinanzen entwickeln sich wie ein Tumor“. Aber die Hoffnung aufgeben, will er deshalb noch nicht. Und weil er „MACHEN“ schon als Kind krasser fand als „wollen“, hat Gorus den „Bürgergipfel 2024“ initiiert. So will er am 7. September mit dem verbliebenen „Rest der produktiven Bürger“ in der Stuttgarter Liederhalle Aufbruchstimmung und Zuversicht erzeugen. Er rechnet mit mindestens 1.000 Gästen.

Das Treffen soll auch der Vernetzung dienen, denn die werde laut Gorus von den zum Individualismus neigenden Freiheitsfreunden vernachlässigt: „Wir sind in Sachen Seilschaften und Machtspielchen ungeschickt und schlicht zu ehrlich“, schreibt er in der Einladung zum Gipfel. Das ist vielleicht etwas zu bescheiden: Denn das Netzwerken zählt offensichtlich zu den Stärken seiner Peergroup: Gorus selbst ist auf mehreren Feldern aktiv, unter anderem als Herausgeber des libertären Magazins „Der Sandwirt“, das sich selbst im „konstruktiven Widerstand“ verortet: „Seine Autoren verweigern jedem die Gefolgschaft, der sich über sie erheben und sie beherrschen will. Sie bieten jenen die Stirn, die sie mit Zwang und Gewalt zu Taten oder Unterlassungen nötigen, ihnen Meinungen vorgeben, ihnen gegenüber Privilegien beanspruchen und ihnen ihre Freiheit nehmen wollen.“

Daneben ist er Mastermind der Gorus-Gruppe, zu der die Unternehmen Gorus Publicity, Gorus Media, Gorus Consulting und der Gorus Campus gehören. „Der Sandwirt“ und Gorus Media firmieren nun als Gastgeber des Bürgergipfels, gemeinsam mit der libertären Atlas-Initiative – nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls libertären, aber viel größeren, weltweit aktiven Atlas Network – und dem nationalkonservativen Onlinemagazin „Tichys Einblick“. Namensgeber Roland Tichy ist seinerseits begnadet darin, Kontakte zu pflegen: So war er viele Jahre Vorstandsvorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, Kuratoriumsmitglied der Hayek-Stiftung (nicht zu verwechseln mit der Hayek-Gesellschaft) und Mitglied der Mont Pelerin Gesellschaft, die sich alle für einen schlanken Staat und eine starke Wirtschaft aussprechen. Heute sitzt Tichy im Vorstand der Stiftung Meinung & Freiheit, zusammen mit Hans-Georg Maaßen, dem ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten und Parteivorsitzenden der Werteunion, die zwischen CDU und AfD oszilliert, und deren Förderverein den Bürgergipfel in Stuttgart sponsert.

Ein Gedicht fürs Kämpferherz des „Reichsbürger“-Prinzen

Das zweitberühmteste Gesicht, das mit der Werteunion in Verbindung gebracht wird, ist vermutlich Markus Krall – der allerdings wenige Tage, nachdem aus dem Verein im Februar 2024 eine Partei wurde, schon wieder austrat. Er sei mit der programmatischen Ausrichtung unzufrieden gewesen, erklärte er den Schritt. Krall ist Gründer der mitveranstaltenden Atlas-Initiative und tritt bei dem Bürgergipfel als Redner auf. Als Autor schreibt er öfter mal für „Der Sandwirt“, aber auch für „Tichys Einblick“, wo seine Expertise geschätzt wird: So wollte der Verein Pro Mittelstand Hamminkeln eigentlich Roland Tichy als Redner für den Neujahrsempfang 2020 gewinnen. Als dieser aber krankheitsbedingt absagen musste, vermittelte sein Büro kurzerhand Krall als Ersatz. Er warb dann im nordrhein-westfälischen Hamminkeln für eine „bürgerliche Revolution“ und stellte seine Idee vor, Sozialhilfeempfänger:innen das Wahlrecht zu entziehen. Sehr zum Missfallen der örtlichen CDU, deren Vorsitzender beim traditionellen Fischessen des Stadtverbands Kritik laut werden ließ: „Radikale Politik ist immer schlecht.“

Wie genau Krall beim Bürgergipfel zu Aufbruchstimmung und Zuversicht beitragen wird, bleibt spannend, denn in den Medien ist er vor allem als „Crash-Prophet“ bekannt. Seit Jahren warnt er eindringlich vor einem Kollaps des Finanzsystems. Zum Beispiel 2018, als er vorhersagte: „In zwei Jahren sind wir alle pleite!“ In seiner Eigenschaft als Goldverkäufer hat Krall zugleich ein passendes Produkt im Angebot, als wertbeständigen Stabilitätsanker. Die Wochenzeitung „Zeit“ berichtete vergangenen Februar über ein Online-Seminar, dessen Sinn und Zweck Markus Krall wie folgt benennt: „Man muss das Bewusstsein schärfen dafür, dass diese Regierung die Menschen im Land enteignet.“ Er rät daher zur „finanziellen Selbstverteidigung“, was bedeutet, dass die Leute Gold kaufen sollen.

Bis November 2022 war Krall Geschäftsführer der Degussa Goldhandels GmbH, die von dem Milliardär August von Finck junior gegründet worden ist. Finck hatte dafür extra die Rechte am Namen Degussa erworben, obwohl dieser als historisch belastet gilt: Denn die „Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt“ war an zahlreichen NS-Verbrechen beteiligt, neben der Verstrickung in „Arisierung“ und Zwangsarbeit war das Unternehmen beteiligt an der Produktion von Zyklon B, das in den Gaskammern von Auschwitz zum Einsatz kam. In den Schmelzöfen der Degussa wurde anschließend das Zahngold ermordeter Jüdinnen und Juden verarbeitet.

Der Bankier August von Finck senior zählte zu den frühen Förderern Adolf Hitlers und profitierte im Gegenzug massiv von der „Arisierung“ jüdischer Banken. Vermögen und Weltbild blieben in der Familie: Finck seniors zweitgeborener Sohn, August von Finck junior, nutzte sein Privatvermögen von geschätzt neun Milliarden Euro bis zu seinem Tod 2021, um rechtspopulistische bis rechtsextreme Organisationen, unter anderem die AfD, finanziell zu fördern.

Der Haupterbe des Finck-Vermögens sowie der Degussa-Goldhandel-Anteile, August François von Finck, sagte dem „Handelsblatt“ einmal, er könne mit dem Gedankengut seines Vaters wenig anfangen. Dass Krall als Chef der Degussa-Goldhandel gehen musste, nachdem sich die Eigentumsverhältnisse geändert hatten, verblüffte daher nur wenige Branchenkenner:innen. Der Geschasste sprach von einer „Prüfung unseres Glaubens an Gott, die Wahrheit und das Recht“.

Nach Recherchen von WDR, NDR und „Süddeutscher Zeitung“ pflegte Krall jahrelang Kontakte in die „Reichsbürger“-Szene, unter anderem zu Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß, der sich aktuell als mutmaßlicher Rechtsterrorist vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verantworten muss. Im Herbst 2022, wenige Wochen vor Reuß’ Festnahme, hat Krall dem Reichsbürger laut der „Tagesschau“ ein „eigens für Reuß verfasstes Gedicht“ geschickt. Es trägt den Titel „Ragnarök“, benannt nach dem Untergang der (nordischen) Götter und der Entstehung einer neuen Welt aus den Trümmern der alten. Kostprobe: “Denn wie der Zyklus ohne Frage / dies Land in seinen Abgrund leitet / so weiß ich: es gibt neue Tage / von Freiheit, Wohlstand, Gott begleitet”. Damit wollte Krall laut Chat-Verläufen das „aufrechte Kämpferherz“ des Prinzen stärken.

Krall steht zudem an der Schnittstelle zwischen dystopischem Rechtspopulismus und christlichem Fundamentalismus. Er ist ein scharfer Kritiker der „zentralen Narrative“, die er für eine „satanische Umkehr“ des Richtigen hält. Zur Unterdrückung des Menschen beitragen würden dabei insbesondere „das Geld, die Planwirtschaft, die Migration, die angebliche Seuche, das Klima, das Gendergaga und der Krieg“. Seine Thesen verbreitet Krall auch in den Publikationen „Smart Investor“ und „eigentümlich frei“, die als Partner des Bürgergipfels auftreten. Ersterer will sein Publikum über die aussichtsreichsten Investmentmöglichkeiten auf dem Laufenden halten. „eigentümlich frei“ kommt hingegen eine Scharnierfunktion zu, um Berührungsängste zwischen weit rechts und extrem rechts abzubauen: Auch die Faschisten Götz Kubitschek und Jürgen Elsässer, Chefredakteur des rechtsextremen „Compact“-Magazins, durften hier schon Beiträge beisteuern.

Libertäre Indoktrination im Kinderzimmer

Die Bürgergipfel-Eintrittskarten für 150 Euro werden Interessierten schmackhaft gemacht mit dem Hinweis, dass es ein „Hinterzimmer“ gibt, in dem „Komplizen unter sich“ sein können. Was auf den Bühnen erzählt wird, ist hingegen schwer abzuschätzen: Das Programm wirbt eher mit Namen als mit Inhalten. Man erfährt zwar, wer referiert – unter anderem Ex-AfDlerin Frauke Petry, Höcke-Anwalt und CDU-Mitglied Ulrich Vosgerau, Whisky-Taster Horst Lüning. Aber worüber die Leute reden werden, wird nicht verraten. Unter der Zwischenüberschrift „Darum geht’s“ heißt es nur: „Weniger Politik. Weniger Ideologie. Weniger Kollektivismus. Mehr Vernunft. Mehr Verantwortung. Mehr Freiheit.“ Neben wirtschaftsliberalen Positionen und Rechtsoffenheit ist für das Feld der Referenten kennzeichnend, dass ein hoher Anteil den Klimawandel nicht als Problem ansieht. Zu den Partnern des Gipfels zählt folgerichtig auch das „Europäische Institut für Klima und Energie“ (EIKE), das mit seinem Namen wissenschaftliche Kompetenz vorgaukelt, aber nicht eine Publikationen von Klimaforscher:innen vorweisen kann.

Generell fällt auch, dass zu den Unterstützern des Gipfels zahlreiche Alternativmedien aus dem rechten Spektrum zählen. Mit dabei sind neben den benannten auch die „Achse des Guten“, „Publico“ – der Blog des als Redner auftretenden „Tichys Einblick“-Redakteurs Alexander Wendt – sowie der Schweizer „Kontrafunk“, der sich selbst als „Die Stimme der Vernunft“ bezeichnet, von Björn Höcke empfohlen wird und ebenfalls als Sponsor des Kongresses gelistet ist.

Andere Geldgeber sind ebenfalls fokussiert darauf, die Einflusssphäre libertärer Ideen auszuweiten. Die „Tuttle Zwillinge“ etwa möchten Kinderzimmer erschließen: Es handelt sich um eine Buchreihe aus den USA, die auf frühkindliche Indoktrination abzielt. „Empfohlen ab 6 Jahren“ soll „Wirtschaft kinderleicht erklärt“ werden, und das sieht dann zum Beispiel so aus: Die Regierung erlaubt den „Diebstahl durch Gesetz“ (gemeint sind Steuern), lernen die Kleinen bei der Lektüre von „Die Tuttle-Zwillinge und das Gesetz“. Aber: „Kann es wirklich sein, dass es Gesetze gibt, die es manchen Menschen erlauben, uns zu verletzen und uns zu bestehlen?“, fragen sich die Kinder. Ein Erwachsener klärt sie auf: „Alle wollen viel lieber etwas vom Staat bekommen, als etwas an ihn abzugeben. Es gibt sogar Menschen, die sich lieber komplett vom Staat versorgen lassen, als selbst zu arbeiten. Und so fangen die bösen Menschen in der Regierung an, alles zu kontrollieren.“

In eine ähnliche Kerbe stößt auch der Sponsor „How to Hochkultur“, ein Thinktank, dem ein Zitat des US-amerikanischen Ökonomen Murray Rothbard richtig gut gefällt: „Das Bild des freien Marktes ist notwendigerweise ein Bild der Harmonie und des gegenseitigen Nutzens; das Bild der staatlichen Intervention ist ein Bild von Kastenkonflikten, Zwang und Ausbeutung.“ Deswegen hat sich How to Hochkultur dem Anarcho-Kapitalismus verschrieben, einer marktradikalen Ideologe, derzufolge „herrschaftsfreie Gemeinschaften nur mit freier Marktwirtschaft funktionieren können“. Aber eben ohne Staat, den die Mitglieder des Thinktanks ablehnen, weil er sie „beklaut“.

Gemeinsame Klammer: „Keine Brandmauer im Kopf“

Eher untypisch für das libertäre Spektrum wirkt der Sponsor „Krasser Guru“, eine noch junge Agentur, die Tickets verkauft und eigene Veranstaltungen organisiert. Zum Beispiel einen Vortrag mit Robert Fleischer, der den Titel trägt: „UFOs: Sie sind hier! Was jetzt?“ Oder den Kongress „Wege aus der Matrix“, wo zum Beispiel Martin Hipp einen Vortrag hält, der sich laut „Krasser Guru“ mittlerweile als „Experte für die verborgene Geschichte einen Namen gemacht“ habe und über „die Hinweise auf die Existenz von Tataria und dessen Auslöschung aus der Geschichte“ referieren will.

„Krasser Guru“-CEO und Gründer Hardy Groeneveld saß zwischen 2014 und 2015 kurzzeitig für die AfD im Kreistag von Soest, er ist ein Fan des Schweizer Historikers und Verschwörungsideologen Daniele Ganser, mit dem er schon 2019 einen Vortrag organisiert hat. Dann, als letzten Sommer ein Vortrag mit dem Antisemiten Ken Jebsen gecancelt wurde, habe das Groeneveld motiviert, selbst Tickets zu verkaufen und den Verfemten ein Podium zu bieten. Nachzulesen ist die Geschichte auf „Apolut“, dem Nachfolge-Portal von Ken Jebsens Portal KenFM, wo die Aktivitäten der Agentur „Krasser Guru“ wohlwollend von Eugen Zentner rezensiert werden. Praktisch: Im Herbst ist eine Veranstaltungsreihe mit Jebsen geplant, der hier allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Kayvan Soufi-Siavash auftritt. Jebens und Ganseres Bücher werden wiederum im Shop von „Krasser Guru“ angeboten und Rezensent Eugen Zentner ist es gelungen, wohlwollende Besprechungen der Schriften auf dem sich links wähnenden Querfront-Organ „Nachdenkseiten“ unterzubringen.

Schon 2020 hat Groeneveld den Verein „Mutigmacher“ gegründet, der Whistleblower animieren wollte, Corona-Geheimnisse auszuplaudern. Und hier schließt sich das Hufeisen: Die Postanschrift der Mutigmacher e.V. war identisch mit der des Verlags Sodenkamp & Lenz, der die „Querdenken“-nahe Zeitung „Demokratischer Widerstand” heraus gibt. Die treibende Kraft dahinter, Anselm Lenz, kommt eigentlich aus einer linken Ecke, hat mal für die taz geschrieben – aber er sprang neulich ein, damit das zwischenzeitlich wegen verfassungsfeindlichem Rechtsextremismus verbotene „Compact“-Magazin einfach bei ihnen unter anderem Namen erscheinen konnte.

Auf Anfrage lässt auch Bürgergipfel-Initiator Oliver Gorus eine gewisse Flexibilität erkennen. „Wir beim Bürgergipfel, also die Organisatoren, die Redner, die Partner und die Gäste, stammen aus allen möglichen gesellschaftlichen und politischen Ecken, von links bis rechts. Linke oder rechte Extremisten sind nicht darunter. Was uns eint, ist unter anderem, dass wir keine Brandmauern in den Köpfen haben.“

Schaulaufen der Gescheiterten

Doch dabei enden die Gemeinsamkeiten nicht. Prägendes Merkmal für die Sympathisant:innen der libertären Bewegung ist, dass sie den Freiheitsbegriff eindimensional auslegen, es ihnen also nicht um universelle Freiheitsrechte für alle Menschen geht, sondern eher um ihre partikularen Privilegien als Nutznießer des kapitalistischen Weltsystems. In dem libertären Spektrum fordert kaum jemand Bewegungsfreiheit für Asylsuchende oder ein Ende des gesamtgesellschaftlichen Arbeitszwangs, sie sind eher stolz auf unsere schaffenden Leistungsträger und wollen ein Ende der „unkontrollierten Massenzuwanderung“, die zu allem Überdruss ein Phantasma ist: Während die europäische Außengrenze die tödlichste der Welt ist und der Staatenbund zwecks Flüchtlingsabwehr Deals mit Diktaturen eingeht, ist in der rechtslibertären Blase sogar das Geschwafel von der Umvolkung beliebt, mit der finstere Mächte angeblich die weiße Rasse auslöschen wollen, in dem eine Migrantenschar ihren Genpool verunreinige. Sie dazu nur, wie „Bürgergipfel“-Initiator Oliver Gorus zitiert, was er von „eigentlich vernünftigen Leute“ so hört: „In ein paar Jahrzehnten würden hier ohnehin nur noch Immigranten leben, die europäischen Völker seien dem Untergang geweiht.“

Um zu verhindern, dass Schutzsuchende einen Asylantrag auf deutschem Boden stellen, erklärte es die damalige AfD-Chefin Frauke Petry 2016 für legitim, an der Grenze „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch [zu] machen“ – sich trotzdem einzureden, man sei freiheitsliebend, ist auch irgendwo eine Leistung.

Die Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben sich in ihrem 2022 erschienen Buch „Gekränkte Freiheit“ der Frage gewidmet, „wie die normative Unordnung zu erklären ist, in der sich das Ideal der Freiheit mit zutiefst illiberalen Ansichten und Praktiken verbindet“. Dabei stellen sie fest: „In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen. Die Anhänger:innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden.“

Die libertäre Bewegung ist in diesem Sinne keine Rebellion gegen, sondern eine Affirmation der kapitalistischen Freiheitsnormen, insbesondere Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Souveränität, zumindest wollen sie Letztere selbst ausüben können – und reagieren allergisch auf alles, was dieses Freiheitsverständnis ihrer Sicht nach einschränken könnte.

Laut Nachtwey und Amlinger werde Erfolg gemeinhin mit erbrachter Leistung verbunden, „und dies hat verheerende Folgen für die Affektdynamik, wenn sich der individuelle Berufserfolg trotz erbrachter Leistung nicht einstellt oder aber die Menschen in ihrem Handeln gehemmt werden“. Die Soziolog:innen schreiben unter Verweis auf den US-amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel: „Das Missverhältnis zwischen kollektiver Imagination und individueller Realität schlägt um in eine ‚Tyrannei der Leistung’, die bei den Gewinnern Hochmut und Überheblichkeit, bei den Verlierern Scham und Enttäuschung auslöst.“

Wo der Erfolg eines leistungsfokussierten Libertären ausbleibt, stellt sich fast zwangsläufig die Kränkung ein: „Die Scham, nicht den Ansprüchen zu genügen, führt zu tiefen Selbstzweifeln. Insbesondere in einer sozialen Atmosphäre der Ungewissheit, in der Aufstiegshoffnungen von Statusblockaden konterkariert werden, ist das Streben des Einzelnen mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert – und verwandelt sich in bittere Benachteiligungsgefühle.“ In der Folge wird die Schuld am Scheitern auf Sündenböcke abgewälzt, etwa weil sich arm wähnende Libertäre zur Überzeugung, dass bei der Jobvergabe nicht nach Eignung, sondern zu Gunsten von Frauen oder Diversität entschieden worden sei, die zudem mächtig genug sein müssen, ihre Agenda zu verwirklichen. Entsprechend beklagen die Libertären allerlei Vorschriften und Verbote, die sich in ihrem Weltbild, so Amlinger und Nachtwey, der „Mainstream“ oder neuerdings die „Woken“ ersonnen haben sollen: „Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungekannten Ausmaßes vorbereiten.“

Die abgesägte AfD-Chefin Frauke Petry, der irrlichternde Finanzprophet Markus Krall, der ehemals in Medienkreisen renommierte Ronald Tichy: Sie alle verbreiten derlei Thesen und sie alle haben in den vergangenen Jahren an gesellschaftlichem Status eingebüßt. Im Grunde ist der Bürgergipfel ein großes Schaulaufen der Gescheiterten. Nachdem sie in der gesellschaftlichen Hackordnung gehobene Positionen innehatten, scheinen sie heute keine Schmerzen mehr damit zu haben, dass ihr Kongress von Ufologie-Fans gesponsert wird, vielleicht weil die Eitelkeit, eine Bühne zu bekommen, die Scham, wem man den Auftritt zu verdanken hat, übertrumpft.

Wer so verzweifelt ist, braucht Balsam. So argumentieren Nachtwey und Amlinger mit dem Psychologen Oliver Decker, demzufolge die Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland zu einer „narzisstischen Plombe“ geworden sei: „Das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder diente der Abwehr einer narzisstischen Kränkung, also des verlorenen Kriegs und der Niederlage des Faschismus. Nun waren es die kapitalistischen Normen und Ideale, die den Selbstwert stabilisierten und eine positive Identifikation mit der Nation ermöglichten.“

Statt der Identifikation mit einer konkreten Führerfigur erfolgt die Identifikation innerhalb des libertären Spektrums eher mit einem Abstraktum – was in einer reflexartigen Apologie des für ihre Leiden verantwortlichen Kapitals resultiert: Es gibt kein Problem, das der Markt nicht lösen kann.

Auffällig ist unter den Libertären überdies, wie stark sie zur projektiven Inversion neigen: Eigentlich alles, was sie ihren politischen Feinden unterstellen, trifft auf sie selbst zu. Sie wittern überall politische Intrigen, aber bewerben ihren „Bürgergipfel“ mit einem Hinterzimmer für Komplizen. Sie halten die „Woko Haram“ für verlogen, aber nehmen es selbst nicht so genau mit der Wahrheit. Sie fordern „mehr Vernunft“ und „weniger Ideologie“ – aber bemerken dabei nicht, wie ideologietriefend und unvernünftig ihr quasi-religiöser Marktglaube ist.

Der „Bürgergipfel” ist ein auffälliges Zeichen für den Zulauf des libertären Spektrums, der wiederum eine Nebenfolge der multiplen Krise ist, in der sich die Welt seit Jahren befindet. Diese spezielle Nebenfolge basiert auf einem Weltbild, das vor allem darin besteht, die Kategorien der kapitalistischen Vergesellschaftungsform – darunter Leistungsorientierung, Ellbogenmentalität und ein bis zur völligen Rücksichtslosigkeit gesteigerter Freiheitsbegriff – als nicht hinterfragbare „Realität” aufzufassen, die man mit blinder Wut gegen alles und jede:n verteidigen muss. Das dürfte für große Teile der bürgerlichen Subjekte anschlussfähig sein.

Der größte Witz daran ist, dass der vermeintliche Freiheitskampf der libertären Bewegung auf Unterwerfung hinausläuft: Sie wollen sich gar nicht gegen die immensen Zumutungen wehren, die das kriselnde Weltsystem uns allen aufnötigt, sondern affirmieren seine Werte; sie haben kein Mitleid mit den Verlierer:innen der globalen Konkurrenzordnung, sondern erklären sie zu den Verantwortlichen für ihre oftmals nur eingebildeten Privilegienverluste; die Libertären polemisieren nicht gegen den leistungswahnsinnigen Arbeitszwang, der dafür sorgt, dass ein Großteil des Lebens eben nicht frei, sondern in einem Beruf verbracht werden muss – sondern führen einen aussichtslosen Kampf mit Windmühlen, um Leistung, Recht und Ordnung zu verteidigen, damit alles wieder wird, wie es nie war.