Eritrea: Der lange Arm des Regimes und die Hölle, in die Geflüchtete abgeschoben werden sollen

Zu Hintergründen der Krawalle in Stuttgart

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 656 am 25. Oktober 2023)

Die Flucht aus Eritrea ist noch nicht das Ende der Verfolgung. Der Machtapparat des Diktators hat seine Landsleute auch im Ausland im Blick. Aster Ghidey traut sich als eine der wenigen, ihre Kritik öffentlich zu äußern – und ist frustriert, dass Aufmerksamkeit erst nach Gewaltexzessen folgt.

Augenblicklich schlägt die Stimmung um, die Heiterkeit ist verflogen. Der Wirt möchte in nichts verwickelt werden und lächelt zwar noch. Aber plötzlich wirkt es nicht mehr wärmend. Leider kann er nichts über die Lage in Eritrea sagen, bringt er mit zusammengepressten Lippen hervor – und bittet, ihn nicht zu zitieren, keine Details über sein Lokal zu nennen oder sonstige Informationen öffentlich zu machen, über die er identifiziert werden könnte.

So viel Vorsicht ist anscheinend nicht unüblich, wenn Eritreer:innen nach den Zuständen in der Folterdiktatur befragt werden. Der lange Arm des Regimes reicht weit. So berichtet auch die „Zeit“, sie habe „mehrere Wochen lang in der eritreischen Community recherchiert, bei einigen Angehörigen herrschte Angst, sie wollten nicht einmal anonym zitiert werden“. Bis sie endlich jemand gefunden haben, der unter geändertem Namen erzählt, wie Anhänger:innen des eritreischen Herrschers Isayas Afewerki ihre geflüchteten Landsleute auch im Ausland bedrohen. Die Quelle schildert einen nächtlichen Anruf, den sie dokumentiert hat. „Hör mal, ich weiß, wo du wohnst. Du hast zwei Kinder, denk an sie“, heißt es im Protokoll. „Eine Kugel von einem Albaner reicht. Ich sorge dafür, dass ihr im Rollstuhl landet.“

Dass es sich bei den Einschüchterungsversuchen nicht nur um leere Drohungen handelt, zeigen die Fälle von Eritreer:innen im Exil, die sich kritisch zum Regime geäußert haben und deren Angehörige in der Heimat kurz darauf verschwunden sind. Diese brutale Politik führt zu einer Mauer des Schweigens, auch in Deutschland. Wo sich kaum jemand traut, offen zu reden, ist die Stuttgarterin Aster Ghidey eine Ausnahme. „Nach der Flucht vor dem Diktator erwarten uns hier seine Leute“, sagt sie bitter und räumt ein, sich manchmal große Sorgen zu machen. „Aber wenn sie mich zum Schweigen bringen, haben die Regimetreuen gewonnen.“ Das Thema ist der 53-Jährigen so wichtig, dass „ich mit meinem Namen und Gesicht dafür einstehen muss“. Deswegen engagiert sie sich in der Gruppe „United4Eritrea“, ein Zusammenschluss regimekritischer Diaspora-Eritreer:innen, der schon seit 2010 versucht, auf die „unduldbaren Zustände“ in der Militärdiktatur aufmerksam zu machen.

Verarmt, aber nicht friedlich

Ghidey ist seit 1990 deutsche Staatsbürgerin, sie „denkt und träumt auf Deutsch“. Über Kontakte bekommt sie dennoch viel mit über die Zustände im Heimatland ihrer Mutter – auch wenn sich ihr Cousin nicht traut, am Telefon mit ihr zu reden.

Nach einem 30 Jahre währenden Krieg erreichte Eritrea 1993 die Unabhängigkeit von Äthiopien. Doch die großen Hoffnungen, dass sich mit Staatsoberhaupt Afewerki, dem Anführer der Volksbefreiungsfront, nun alles zum Besseren wenden würde, blieben unerfüllt. Unter dem Präsidenten, der sich nie einer demokratischen Wahl gestellt hat, sei das Land bis an den Rande des Kollaps herabgewirtschaftet worden, sagt Ghidey. Es gebe so gut wie keine funktionierenden Fabriken und Universitäten, kaum Zukunftsperspektiven für die Jungen, die öffentliche Daseinsvorsorge sei quasi nicht existent. Dass der Staat noch nicht zusammengebrochen ist, liegt laut Ghidey vor allem an zwei Faktoren: Ohne das viele Geld, das Eritreer:innen aus dem Ausland überweisen, ginge der letzte Rest an ökonomischem Fundament verlustig. Zudem sorge der Militärapparat dafür, dass der Staat die eigenen Bürger:innen zur Zwangsarbeit versklaven könne.

„Lange galten Eritreer als Wirtschaftsflüchtlinge aus einem verarmten, aber friedlichen Land“, schrieb der Münchner Ethnologie-Professor Magnus Treiber kürzlich in einem Gastbeitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“. So hätte sich die Revolution „einst Frieden und Bildung, Gleichberechtigung und Prosperität auf die Fahnen geschrieben“. Doch Präsident Afewerki sei es gelungen, „Vielstimmigkeit und Kritik zu einer Gefahr für die nationale Einheit umzudeuten und die Angst zu schüren, die errungene Unabhängigkeit gehe ohne ihn wieder verloren“. Die jüngsten Massenschlägereien hätten nun die Illusion eines friedlichen Landes zerstört – „allerdings um den Preis, die gesamte demokratische Opposition in Verruf zu bringen“.

In diversen westlichen Städten hat es in den vergangenen Monaten rund um Veranstaltungen mit Eritrea-Bezug schwere Krawalle gegeben: Zweimal im hessischen Gießen, in Stockholm, Seattle, Toronto, in Tel Aviv und am 16. September dieses Jahres in Stuttgart.

Aster Ghidey war dabei, als die Lage in der baden-württembergischen Landeshauptstadt eskalierte. Dort rief ein sogenanntes „Eritrea-Seminar“ Protest auf den Plan. Laut den Seminarveranstalter:innen soll es sich um ein ganz normales Bildungs- und Kulturangebot gehandelt haben. Oppositionelle vermuten, es sei in Wahrheit ein Propagandaprogramm der Regimetreuen gewesen. Ghidey sagt, sie gehe schon seit 2016 gegen solche Versammlungen auf die Straße. Immer friedlich – und immer ohne dass sich jemand dafür interessiert hätte. Am 16. September, sagt sie, hätte sie der Polizei sogar geholfen, die Randalierenden einzukesseln. Insgesamt wird es an diesem Abend 228 Festnahmen geben, die Aggression ging von Gegner:innen des eritreischen Diktators aus. „Gewalt darf nie ein Weg sein“, beharrt Ghidey im Gespräch mit Kontext. Und sie wirkt sehr betrübt, als sie feststellt, dass die mediale Aufmerksamkeit für die Zustände in Eritrea noch nie so groß war wie seit den Ausschreitungen. „Bitte beachtet uns auch so“, lautet ihr Wunsch.

Die Justizministerin will trotzdem abschieben

Verfügbar wären Informationen über die Missstände schon lange. In einem Sonderbericht für die Vereinten Nationen (UN) sind schon 2013 schwerste Menschenrechtsverletzungen dokumentiert: von außergerichtlichen Tötungen, dem gezielten Verschwindenlassen Oppositioneller bis zu Folter gegen die eigene Bevölkerung. Der verpflichtende Wehrdienst kann unbefristet verlängert werden und wer eingezogen ist, hat sich lange nicht nur um militärische Angelegenheiten zu kümmern, sondern muss beispielsweise auch Kranke pflegen, wenn der Staat irgendwo Bedarf für den Einsatz erzwungener Arbeitskraft identifiziert. Der UN-Bericht schildert, dass die desaströsen Zustände sogar Sieben- und Achtjährige dazu bewegen, sich alleine auf die Flucht zu begeben. Obwohl an den Grenzen scharf geschossen wird, um Landesverräter:innen aufzuhalten.

Aster Ghidey bestätigt diese Schilderungen mit einem traurigen Kopfnicken. Die ökonomische Lage sei schlimm genug. So könne es schonmal vorkommen, dass Menschen in der Hauptstadt Asmara 15 Stunden für einen Eimer sauberes Wasser anstehen müssen. Die staatliche Verfolgung sei aber mindestens genauso schlimm. Ghidey selbst kennt drei Menschen, die seit über 30 Jahren im eritreischen Gefängnis sitzen, weil sie nicht zu den Waffen greifen wollten. Beinahe ebenso lange berichtet sie von diesen Zuständen, ohne Gehör zu finden. Angesprochen auf die Politik, wirkt sie resigniert und hat den Eindruck: Alle wollen nur noch abschieben, abschieben, abschieben, egal wohin und in welche Verhältnisse. „Die CDU unterscheidet sich da rhetorisch ja kaum noch von der AfD und bei den Grünen und der SPD frage ich mich nur noch, was aus diesen Parteien eigentlich geworden ist.“ Gesagt hat Ghidey das noch bevor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 20. Oktober das Cover des „Spiegel“ zierte mit seiner Forderung: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“

Mit sieben Kugeln im Leib über die Grenze

Humanitäre Mindestansprüche sind dabei längst unter Druck geraten. So erkennt Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges (CDU) zwar an, dass Eritrea eine Diktatur sei, in der es „schwere Menschenrechtsverletzungen und Folter“ gebe. Nun sind Abschiebungen bei einer akuten Gefährdung schlichtweg illegal. Im typischen Duktus des Rechtspopulismus folgt jedoch ein Aber. So will die Justizministerin diskutieren, ob man „bei schwersten Straftaten“ – gemeint sind dabei nicht Mord oder Totschlag, sondern Landfriedensbruch und Körperverletzung – nicht den „Schutz für entsprechende Straftäter etwas absenkt“.

Gentges moniert gegenüber dem SWR, dass Eritreas Behörden Abschiebeflüge verhindern würden, indem sie ihren Staatsbürgern keine Passersatzpapiere ausstellen. Deshalb brauche es nun das entschlossene Handeln des Bundes und auch der Europäischen Union, „um diesen Widerstand zu brechen“ – ganz als sei das Problem der bürokratische Ungehorsam des Diktators, Menschen wieder aufzunehmen, und nicht die höllischen Verhältnisse, in die Deutschlands Rechte sie schicken wollen.

Um diesen zu entfliehen, setzen viele ihr Leben aufs Spiel. Die UN haben den Fall einer Frau dokumentiert, die es mit sieben Kugeln im Leib über die Grenze schaffte. Selbst nach der Flucht hat die Verfolgung kein Ende: Die „Süddeutsche Zeitung“ hat mehrere Fälle von eritreischen Dolmetschern recherchiert, die absichtlich zu Ungunsten von Geflüchteten falsch übersetzt haben sollen, weil sie dem Regime nahestehen. So wird dann aus einem Geburtsort in Eritrea einer in Äthiopien und die Chancen auf Asyl sinken von etwa 90 Prozent auf 25 Prozent. Erst recht, wenn aus dem Fluchtgrund Folter plötzlich „wirtschaftliche Probleme“ werden.

Wenn Dolmetscher zu Dichtern werden

Die Linken-Abgeordneten Kathrin Vogler, Ulla Jelpke und Michel Brandt haben sich 2019 bei der Bundesregierung erkundigt, wie absichtlichen Fehlübersetzungen ein Riegel vorgeschoben werden soll. Die ernüchternde Antwort: „Zur Überprüfung der persönlichen Zuverlässigkeit erteilen Personen, die sich beim Bundesamt als Sprachmittelnde bewerben, eine Selbstauskunft.“ Die „Welt“ beschrieb schon 2015, dass es kaum Sanktionsmechanismen gibt, wenn Dolmetscher zu Dichtern werden. Denn sogar wenn beim BAMF jemand erwischt wird, „falsch zu übersetzten, muss er keine Konsequenzen fürchten. Schließlich ist er nicht be- oder vereidigt. Das müssen Dolmetscher nur für die Arbeit vor Gericht sein. Im schlechtesten Fall erhält er keine weiteren Aufträge vom BAMF“.

Während die Bundesregierung behauptet, ihr lägen „keine Informationen zu Sprachmittelnden vor, die der eritreischen Regierung nahestehen und in Asylverfahren eingesetzt werden“, nennen direkt oder indirekt Betroffene konkrete Größenordnungen. Ein anonymisiertes Mitglied im eritreischen Verein Mekri sagte dem „Spiegel“, in etwa einem Drittel aller Fälle würden Eritreer:innen zu Opfern falscher Übersetzungen, die die Brutalität der Regierung meist drastisch herunterspielen.

Denn harmlos ist die Flucht für niemanden, versichert Stefan Schmidt (Name geändert). Der Rentner ist, zusammen mit seiner Frau, seit Jahrzehnten in der Böblinger Flüchtlingshilfe aktiv. Eine Einrichtung in der Stadt ist schon länger von Menschen aus Eritrea bezogen, die langfristig in der Bundesrepublik bleiben werden. Wie in Deutschland manche Menschen als Onkel oder Tante bezeichnet werden, obwohl sie keine biologischen Verwandten sind, hätten die Eritreer:innen sie schnell „Mama“ und „Papa“ genannt. Und dennoch: Bei Fragen nach ihrer Vergangenheit seien fast alle wortkarg und einsilbig geworden, schildert Schmidt. Sie sind schwer traumatisiert. Es habe viele Jahre gedauert, bis die ersten aufgetaut sind und beim gemeinsamen Abendessen plötzlich anfingen, zu erzählen. Schmidt sagt, damit sie sich so öffnen können, brauche es eine solide Vertrauensbasis. Das gehe nicht von heute auf morgen.