Klassenkampf ist zu wenig

von Lothar Galow-Bergemann

erschienen in Jungle World #4/2020 23. Januar 2020

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Viele Linke, die jahrzehntelang auf Identitätspolitik gesetzt und die soziale Frage vergessen haben, üben sich aus gutem Grund in Selbstkritik, denn damit überließen sie Liberalen, Konservativen und Faschisten die Deutung wichtiger gesellschaftlicher Konflikte. Auch wenn manche die Arbeiterklasse aus dem Blick verloren haben – es gibt sie und Klassenkämpfe sind notwendig. Aber Klassenkampf kann heute bestenfalls noch notdürftige und instabile Erfolge für einzelne Gruppen der Arbeiterklasse erzielen, nachhaltige Antworten auf die soziale Frage kann er nicht mehr geben. Weil die Zwänge der Kapitalverwertung die Lösung aller entscheidenden Zukunftsfragen blockieren, müssen soziale Kämpfe heute unmittelbar – theoretisch wie praktisch – die Systemfrage stellen. Und genau hier beginnen die Probleme mit dem Klassenkampf. Das Klasseninteresse der Arbeiterklasse hat sich längst als systemimmantes Interesse derer entpuppt, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Es fehlt an systemsprengendem Potential.

Klassenkampf ist eine Nummer zu klein für die notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Nur Kämpfe, die die theoretischen wie praktischen Fesseln des „Interesses der Arbeiterklasse“ sprengen, können wirklich antikapitalistischen Charakter annehmen. Betrachten wir zum Beispiel die Frage der Arbeitszeit. Der Digitalisierungsschub stellt alles, was der Kapitalismus bisher an Produktivität und Einsparpotential für menschliche Arbeitskraft hervorgebracht hat, in den Schatten. In der Logik der Kapitalverwertung werden noch viel mehr Menschen „überflüssig“. Wer die Lohnarbeit als natürliche Lebensgrundlage akzeptiert und das Lohnarbeiterinteresse ins Zentrum rückt, den treibt nur eine Frage um: Wie kann man trotzdem das Beschäftigungsniveau halten? Wer hingegen den fundamentalen Unterschied zwischen abstraktem und stofflichem Reichtum im Blick hat, für den könnte die Welt auch ganz anders eingerichtet sein. Stofflichen Reichtum brauchen wir zum Leben (Nahrung, Kleidung, Technik, Wissenschaft, Kultur), abstrakten Reichtum braucht allein die Kapitalverwertung (Wert, Geld, Kapital). Weil die Möglichkeiten zur Steigerung des stofflichen Reichtums exorbitant wuchsen und weiter wachsen, müssten heute alle Menschen wesentlich weniger arbeiten und könnten dabei wesentlich besser leben – wenn die Gesellschaft jenseits des abstrakten Reichtums der „betriebswirtschaftlichen Vernunft“ endlich wirklich vernünftig wirtschaften und die Produktion und Verteilung des stofflichen Reichtums in den Mittelpunkt stellen würde. Heraus käme keine 30-, sondern viel eher eine Fünfstundenwoche, die keine Utopie mehr sein müsste.

Das Interesse der Arbeitskraftverkäufer hilft da nicht weiter. Auch die kämpferischste Belegschaft und die „revolutionärste“ Gewerkschaft, wird, solange sie bei Sinnen ist, nicht ihre „eigenen“ Betriebe kaputtstreiken. Schließlich können sie ihre Arbeitskraft nur verkaufen, wenn diese auf dem Markt bestehen bleiben. Je schlechter die Bedingungen der Kapitalverwertung sind, umso enger wird der Spielraum für den Klassenkampf. Ein Kampf um Arbeitszeitverkürzung „bei vollem Lohn- und Personalausgleich“ mag in einem reichen Land wie Deutschland vielleicht noch mit Blick auf eine 30-Stundenwoche für einige durchsetzbar sein – bei sehr günstigen und eher unwahrscheinlichen Kräfteverhältnissen. Auch das wäre aber meilenweit entfernt von der notwendigen Kehrtwende. Genauso perspektivlos ist der Kampf für eine gute Alterssicherung, wenn er vom Standpunkt der Arbeit geführt wird. Dass, wer heute unter 30 ist, mit 80 noch keine Rente bekommen wird, von der er leben kann, ist ein offenes Geheimnis. Die radikale Wochen- und Lebensarbeitszeitverkürzung, die heute nötig und möglich ist, kann weder mit „vollem Personal- und Lohnausgleich“ noch auf Basis einer Rentenversicherung funktionieren. Wer das glaubt, sitzt der Illusion auf, unter Bedingungen explodierender Produktivität sei es weiterhin möglich, das Lohnsystem für Massen von Menschen aufrechtzuerhalten. Klassenpolitik ist hier am Ende.

Eine wirklich antikapitalistische Position verabschiedet sich vom Standpunkt des Klasseninteresses und sagt: Schön, dass uns die Arbeit ausgeht. Wird das gewaltige Potential von disposable time (Karl Marx) genutzt, das die Produktivkraftentwicklung hergibt, können Massen von Menschen endlich das tun, was bisher nur einige wenige konnten: nicht das ganze Leben mit Mühe und Arbeit verbringen, sondern sich all dem Schönen widmen, das das Leben zu bieten hat. Zum Teufel mit dem Arbeiterdasein und der „Klassenidentität“, man sollte sie endlich loswerden.

Das Modell „Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit“ war in weiten Teilen des Globus noch nie Realität. Heute funktioniert es selbst in den Zentren des Kapitalismus für immer weniger Menschen. Es hat keine Perspektive mehr und mit ihm auch nicht der „volle Personal- und Lohnausgleich“. Angesagt sind stattdessen die radikale Arbeitszeitverkürzung bei Ausstieg aus dem Lohnsystem sowie der abstrakten Reichtumsproduktion und Einstieg in gesellschaftliche Aneignung des stofflichen Reichtums. Das ist schon aus Klimaschutzgründen unerlässlich. Für die Müllhalde zu produzieren, ist zu einer tragenden Säule des Kapitalismus geworden. Jeder weiß, dass es beispielsweise viel zu viele Autos gibt. Aber wessen Lebensunterhalt davon abhängt, dass VW, Daimler&Co möglichst viele davon verkaufen, sitzt in der Falle. Dass „der ganze Laden irgendwann an die Wand fahren wird“ ist fast zum Allgemeinwissen geworden. Die systemimmanente Antwort lautet: Wir müssen weiter auf die Wand zurasen, weil unser Leben davon abhängt.

Die Zerstörung der Erde ist in diesem System programmiert. Der Standpunkt des Interesses der Arbeitskraftverkäufer weicht keinen Millimeter von dieser Logik ab. Deswegen stößt die Bewegung „Fridays For Future“ regelmäßig an eine Gummiwand, sobald es um Arbeitsplätze geht: „Wahrscheinlich habt ihr recht und eigentlich sympathisiere ich ja mit euch, aber sagt mir doch mal, wovon meine Familie und ich in Zukunft leben sollen“, so der Tenor. Der Kampf gegen den Klimawandel muss deswegen mit einem Kampf um radikale Arbeitszeitverkürzung einhergehen. Beides könnte sich gegenseitig befeuern und enorme Sprengkraft entwickeln. Noch ist das den wenigsten Akteuren bewusst. So bleiben die zaghaften Annäherungsversuche von Gewerkschaften und Umweltverbänden in der Illusion befangen, Klimaschutz und „Vollbeschäftigung“ gingen zusammen. Bedauerlicherweise wird die Frage der Arbeitszeitverkürzung nicht mitgedacht, von der radikalen Arbeitszeitverkürzung, die möglich wäre, ganz zu schweigen.

Doch auch feministische Kämpfe um eine gerechte Verteilung der Reproduktionstätigkeiten, die Solidarität mit Geflüchteten, der Kampf um eine wirkliche Mobilitätswende, um menschenwürdiges Wohnen für alle und viele Kämpfe mehr könnten im Kampf um radikale Arbeitszeitverkürzung zusammenfließen. Daraus könnte eine antikapitalistische Transformationsbewegung erwachsen, die zunehmend mehr Lebensbereiche – Verbrauchsgüter, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kultur – der Marktlogik entziehen und nach Kriterien rein stofflicher Rationalität organisieren würde. Das würde – theoretisch wie praktisch – immer wieder die Eigentums- und die Machtfrage aufwerfen. Aber die Antwort wäre nicht die Übertragung von Eigentum und Macht an zunehmend perspektivloser werdende Verkäufer der Ware Arbeitskraft, sondern an gesellschaftliche – nicht staatliche – Strukturen und Organsiationsformen, die die abstrakte Reichtumsproduktion der Kapitalverwertung hinter sich lassen und zum Beispiel in der Debatte um Commons (Gemeingüter) und andere Formen solidarischen Wirtschaftens bereits mitgedacht werden.

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