Schaufenstersadismus

Die CDU fordert noch härtere Sanktionen für Erwerbslose, die »zumutbare Arbeit« verweigern

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Jungle World)

Die CDU droht mit einer »Agenda 2030« und will noch härtere Sanktionen für Bürgergeld-Beziehende. Dabei kann denen das Existenzminimum bereits vollständig gestrichen werden.

Im November 2022 war die Union noch stolz auf ihre Verhandlungsleistung. Ein Systemwechsel sei bei der Hartz-IV-Reform verhindert worden, informierte die CDU in einer Pressemitteilung: »Sanktionen bleiben, ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt es nicht.« Beim politischen Streit um das Bürgergeld sei ein »guter Kompromiss« mit der Bundesregierung erreicht worden, dem die Union im Bundesrat schließlich zustimmte.

6 Monate später scheint die CDU ihren Erfolg vergessen zu haben. Kürzlich teilte sie in einer Pressemitteilung mit, dass sie „das Bürgergeld in der jetzigen Form abschaffen“ wolle. „Wenn jemand eine zumutbare, angemessene Arbeit ablehnt, die ihm angeboten wurde, passiert nichts. Das kann nicht sein.“ Für Generalsekretär Carsten Linnemann sei es aber „gesunder Menschenverstand“, dass „Menschen, die arbeiten können, auch arbeiten gehen müssen“. Für die CDU steht fest: „Wer zumutbare Arbeit mehr als drei Monate verweigert, gilt nicht als bedürftig“ und soll deshalb über die Zahlungen für Miete und Nebenkosten hinaus keinerlei Unterstützung vom Staat bekommen. Das ist der Partei so wichtig, dass sie eine Reform des Bürgergelds sogar zur Bedingung für eine Koalition auf Bundesebene erklärt.

Nun ist es schlicht falsch, dass „nichts passiert“, wenn Angebote vom Jobcenter abgelehnt werden. Der »Tagesschau« zufolge verhängte die Bundesagentur für Arbeit in den ersten elf Monaten des vergangen Jahres in 13 838 Fällen Sanktionen wegen der „Weigerung zur Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses“. Noch kurioser erscheint die Rhetorik der Union, wenn man bedenkt, dass erst kürzlich eine Verschärfung der Sanktionen für sogenannte „Totalverweigerer“ beschlossen wurde. „Wer NULL Bock hat auf Arbeit, bekommt NULL Cent vom Staat“, berichtete damals die Bild-Zeitung über den „Knallhart-Plan von Arbeitsminister Hubertus Heil“ (SPD)

Auch die SPD-geführte Bundesregierung setzte sich also dafür ein, Arbeitsunwilligen das Existenzminimum zu streichen. Das Vorhaben scheiterte sogar zunächst an der Union: Weil die CDU- und CSU-geführten Landesregierungen die geplante Subventionskürzungen für Agrardiesel ablehnten, blockierten sie im Bundesrat das Haushaltsgesetz, in dem unter anderem auch die Sanktionsverschärfungen enthalten waren. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese „schäumt“ der Bild zufolge: „Wer sich Arbeitsangeboten total verweigert, kommt dank der Union jetzt weiter einfach für ein paar Wochen davon.“

Die Bundesregierung und die größte Oppositionspartei sind sich in dem Punkt also weitgehend einig und werfen sich eher gegenseitig vor, der Drangsalierung von Arbeitslosen im Weg zu stehen. Ihre Positionen unterscheiden sich nur graduell: Der Reformvorschlag der Bundesregierung sieht vor, die Grundsicherung im Fall einer „gravierenden Arbeitspflichtverletzung“ für höchstens zwei Monate zu streichen. Das neue Unionskonzept sieht dagegen vor, dass die Leistungen für immer gestrichen werden können.

Am 22. März kam der Bundesrat erneut zusammen und der „Knallhart-Plan von Arbeitsminister Hubertus Heil“ wurde mit den Stimmen der Union verabschiedet. Das Gesetz dürfte demnach bald in Kraft treten. „Faule Arbeitslose müssen damit rechnen, dass ihnen künftig die Stütze gestrichen wird“, schrieb Bild, und der FDP-Politiker Christoph Meyer kommentierte: „Endlich können die Sanktionen für Totalverweigerer kommen. Wer nicht kooperiert und zumutbare Arbeit ablehnt, darf nicht mehr durchfinanziert werden.“

Und zumutbar ist eine Menge. Der DGB beschreibt, dass bei einem Arbeitstag von mehr als sechs Stunden insgesamt 2,5 Stunden Fahrtzeit in Kauf genommen werden müssen und im Regelfall ab dem vierten Monat der Arbeitslosigkeit auch ein Umzug als zumutbar gilt. Oft haben Arbeitslose gute Gründe, eine rechtlich als „zumutbar“ geltende Arbeit abzulehnen. „Zum Beispiel wurde einer spielsüchtigen Person ein Job im Spielcasino angeboten“, sagte die Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei der Taz. Oder die Arbeitszeiten seien nicht mit den Betreuungszeiten der Kinder vereinbar. Zudem betont Steinhaus: „Bei den Totalverweigerern handelt es sich um eine verschwindend geringe Zahl. Für letztes Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit rund 8 000 Personen angegeben.“

Gerade seitens wirtschaftsnaher Verbände wird allerdings gerne so getan, als handle es sich um ganz andere Größenordnungen, die es sich auf Kosten des Sozialstaats bequem machen wollten – oft verbunden mit rassistischen Ressentiments. So sagte Rainer Dulger, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, kürzlich der Welt: „Wir haben im Moment 5,6 Millionen Bürgergeldempfänger, davon stammt ein wesentlicher Teil nicht aus Deutschland. Und wir haben insgesamt fast vier Millionen Menschen im Bürgergeldsystem, die arbeiten können – das ist zu hoch.“

Auch wenn sich statistisch seit Einführung des Bürgergelds kein signifikanter Anstieg bei den Arbeitsverweigerern feststellen lässt, verfängt die ideologische Dauerbeschallung. Einer aktuellen Umfrage von Insa im Auftrag von Bild zufolge sind 59 Prozent der Deutschen überzeugt, das Bürgergeld sei ein Anreiz für Arbeitslose, keine Arbeit aufzunehmen. Jüngst meinte auch Sahra Wagenknecht im Gespräch mit der FAZ: „Für eine pauschale Erhöhung des Bürgergelds gibt es so lange keine Akzeptanz in der Bevölkerung, solange Missbrauch nicht stärker eingedämmt wird.“

Und Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft behauptet ebenfalls, das Bürgergeld verleite dazu, sich auf ein Leben mit Leistungsbezug einzurichten. Für Menschen „mit Minijobs oder Teilzeitbeschäftigung“, deren Gehalt vom Jobcenter »aufgestockt« wird, sei es „wenig attraktiv, auf eine Vollzeitstelle zu wechseln“. Das Einkommen steige einfach zu wenig, wenn die staatliche Aufstockung wegfällt. „Da sollte nachgeschärft werden.“

Die naheliegende Lösung des Problems bestünde darin, Arbeit obligatorisch so zu entlohnen, dass man mit einer Vollzeitstelle spürbar mehr als das bloße Existenzminimum verdient. Doch im Fokus konservativer Reformvorhaben steht natürlich nicht ein höherer Mindestlohn oder dergleichen. Vielmehr soll durch das Bürgergeld Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden, damit die Löhne so niedrig bleiben können, wie sie derzeit sind.

Das war schon der – explizit gewünschte – Effekt von Hartz IV gewesen: die Entstehung eines großen Niedriglohnsektors. Dass heutzutage ein großer Teil der Beschäftigten in der Bundesrepublik trotz Arbeit an der Armutsgrenze lebt, ist wesentlich auf die Hartz-Reformen zurückzuführen, die Bürgerinnen und Bürger mit einem brutalen Sanktionsapparat in schlechtbezahlte Arbeit zwang. Die Reformen waren vor etwa 20 Jahren das Herzstück der „Agenda 2010“ der rot-grünen Regierung.

Nun fordert der CDU Generalsekretär Carsten Linnemann eine „Agenda 2030“ und einen „Ruck 2.0“ (in Anlehnung auf den Ausspruch des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1997, durch Deutschland müsse »ein Ruck gehen«). Und um gleich noch eine dritte Floskel zu recyceln, nannte er Deutschland „den kranken Mann der Welt“. Der erste Schritt zur Heilung soll anscheinend darin bestehen, „Totalverweigerern“ den Lebensunterhalt zu verweigern.

Dabei bezweifelt sogar das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2019 die Wirksamkeit von Sanktionen: „Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.“ Vielmehr gebe es Hinweise, „dass häufig kontraproduktive Effekte eintreten“, beispielsweise wenn der Wegfall von Leistungen zur Aufnahme von Schulden führt, die es Betroffenen noch schwerer machen, „wieder in Erwerbsarbeit zurückzukehren und ihre Existenz selbst zu sichern“.

Der erhebliche bürokratische Aufwand, mit dem ein winziger Personenkreis von sogenannten Totalverweigerern drangsaliert werden soll, entpuppt sich damit als Schaufenstersadismus ohne praktischen Nutzen. Auch die Spiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld schrieb vor kurzem: „Sachlich gibt es kaum gute Gründe, die Sanktionen im Bürgergeldsystem zu verschärfen. Sie werden niemanden dauerhaft in Arbeit bringen.“

Die Verschärfung sei trotzdem richtig, findet Weidenfeld, denn das Bürgergeld sei zu großzügig geworden. Das sei ein Problem, zum Beispiel für die „Wohlhabenden, die keine Haushalts-, Pflegehilfen und andere Dienstleister mehr finden, weil die Stützeempfänger ein vermeintlich anstrengungsloses Einkommen zugeschustert bekommen“. Deshalb muss „der Abstand wieder hergestellt werden“.

Das gehe aber „nicht in Wirklichkeit“, weil »das Existenzminimum verfassungsrechtlich zu eng definiert“ sei – in anderen Worten: Noch niedriger darf das Bürgergeld der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge kaum werden. Stattdessen müsse „verbal ein anderer Ton gesetzt werden“. Die Sanktionsverschärfung sei deshalb genau die richtige „Symbolpolitik“. Diese ziele nicht nur auf die Arbeitslosen, sondern vor allem auch auf die, „die Arbeit haben. Sie sollen bei der Stange gehalten werden, ihnen muss Solidarität und Bundesgenossenschaft signalisiert werden“. Angesichts der beispiellosen Reallohnverluste der vergangenen Jahre sollen die Beschäftigen also zufriedengestellt werden, indem Arbeitslose drangsaliert werden: Schikane als Balsam für die Angestelltenseele.