Was würde Blümchen tun?

„Benjamin Blümchen und der Kampf der Klassen“

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 679 am 3. April 2024)

Jetzt streiken auch noch die Tiere: Nach Aufführungen bei der Vergesellschaftungskonferenz und einem krisentheoretischen Sommerzeltlager ist das Theaterstück „Benjamin Blümchen und der Kampf der Klassen“ nun im Esslinger Kulturzentrum Komma zu sehen.

Natürlich hat Zoodirektor Tierlieb vollstes Verständnis für die Interessen seines Personals, und er würde sie ja auch wirklich gerne noch besser bezahlen. Aber das letzte Jahr war hart für ihn, als Realist muss er einsehen, dass die finanziellen Spielräume leider begrenzt sind und jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. So bemüht sich der Arbeitgeber, die Belegschaft zu vertrösten. Aber Tierpfleger Karl hat genug, nachdem er die Lange Nacht des Zoos ohne Zulage durcharbeiten musste. Mit ebenfalls Unzufriedenen hat er eine Betriebsgruppe gegründet, die den Arbeitskampf organisiert. Und nun sitzt Benjamin Blümchen zwischen allen Stühlen. Er mag die Beschäftigten, möchte, dass es ihnen gut geht und dass sie zufrieden sind mit ihren Arbeitsbedingungen. Aber falls er sich mit ihrem Streik solidarisieren sollte, droht der Klassenfeind mit gekürzten Zuckerrationen.

In der Vorlage für ihre Parodie, den Benjamin-Blümchen-Hörbüchern, „schafft es dieser unbedarfte Elefant immer wieder, den Zoo zu retten und allen zu helfen“, erläutert der Historiker Matheus Hagedorny. Zusammen mit Lara Wenzel, Studentin der Theaterwissenschaft, hat er die Figur in ein Dilemma gestürzt: Was macht der Protagonist, wenn sich Harmonie als unmöglich erweist? Wenn sich Benjamin wünscht, dass der Neustädter Zoo eine große und glückliche Familie ist – aber die zuwiderlaufenden Interessen im Arbeitskampf unvereinbar bleiben?

Als wäre das Oben gegen Unten nicht schon kompliziert genug, stellt die Ausbeutung der Lohnabhängigen nicht die einzige Konfliktlinie dar: Auch untereinander erweist sich die vereinigte Arbeiterschaft als zerstritten. Vom marxistisch-leninistisch geschulten Eintrittskartenverkäufer über die anarchistische Würstchenbräter:in bis zum gemäßigt-konstruktiven Tierpfleger quält sich die Betriebsgruppe mit den gleichen Grundsatzfragen herum, über die sich einst Rosa Luxemburg und Gustav Noske die Köpfe zerbrachen: Lohnt sich der kompromisslose Kampf ums Ganze? Für eine Revolution und die Befreiung aller Tiere? Oder ist es geschickter, sich auf das Erreichbare zu konzentrieren: auf bessere Löhne und mehr Urlaub vielleicht?

Als Rüssel fungiert eine Socke

Mit den innerlinken Kontroversen kennen sich Wenzel und Hagedorny gut aus: Wenzel, Jahrgang 1998, schreibt parallel zum Studium an der Universität Leipzig für das „nd“ und den „Freitag“. Hagedorny, Jahrgang 1986, publizierte bereits in der „konkret“ und der „jungle world“, veröffentlichte 2019 ein Buch über den kommunistischen Widerstandskämpfer Georg Elser und promoviert aktuell an der Universität Potsdam zu Islambildern der Neuen Rechten. Ihr Stück haben sie in den vergangenen Monaten unter anderem bei den Einführungstagen der Universität Halle gezeigt, beim Sommerzeltlager der marxistisch inspirierten Theorie-Gruppe „Krisis“ und kürzlich auf der Vergesellschaftungskonferenz in Brandenburg vor etwa 200 Leuten.

Dabei schlüpfen die beiden vor einem minimalistischen Bühnenbild in eine Vielzahl von Rollen. Auch die Kostüme sind schlicht; Blümchens Rüssel etwa wird dargestellt durch eine graue Socke, die sich Hagedorny über den rechten Arm stülpt. Nach jeder Aufführung folgt eine Debatte mit dem Publikum, von dem in der Regel ein großer Teil politisch aktiv ist. „Bei bislang allen Diskussionen haben die Zuschauenden ihre eigene Praxis in Beziehung mit dem gesetzt, was in dem Stück passiert“, freut sich Wenzel. So würden Differenzen bei der gemeinsamen politischen Arbeit erkennbar, etwa wenn die Sitznachbarin die ganze Zeit für die Leninistin applaudiert, aber man selbst die anarcho-syndikalistischen Positionen charmanter findet.

Angefangen hat alles Ende Januar 2023 mit einer kurzen Szene, die Wenzel und Hagedorny für eine offene Bühne verfasst haben. Davon hat eine Falkin der Sozialistischen Jugend Deutschlands (SJD) Wind bekommen, die den Klassenkampf im Blümchen-Universum so interessant fand, dass sie meinte, das sollte mal bei der Jahreskonferenz der SJD aufgeführt werden. Das überzeugte genügend Genoss:innen und so wurde aus dem Kurzformat eine Auftragsarbeit über 45 Minuten, die erstmals am 8. April 2023 im Bayerischen Wald präsentiert wurde.

Benjamin, der besorgte Bürger?

Beim Schreiben haben sich Wenzel und Hagedorny auch mit der wissenschaftlichen Literatur zu Benjamin Blümchen auseinandergesetzt. „Konservative warnen, dass Kinder, die das hören, alle Ökos werden“, sagt Wenzel. Der Politikwissenschaftler Gerd Strohmeier bemängelt beispielsweise holzschnittartige Darstellungen von Politik und Wirtschaft: So werde der Bürgermeister als inkompetent und selbstsüchtig porträtiert, während sich geldgierige Investoren immer nur am Profit orientieren. „Die ‚richtigen‘ politischen Positionen bzw. Verhaltensweisen sind ökologisch, postmaterialistisch, basisdemokratisch, kritisch, zivilcouragiert, pazifistisch, sozial, antikapitalistisch, egalitär, tendenziell anarchisch bzw. antistaatlich, antihierarchisch, antiautoritär und antikonservativ; mit anderen Worten: ‚links‘ der politischen Mitte“, schreibt Strohmeier. Mit anderen Worten: Blümchen ist fast so gefährlich wie Robin Hood, der als militanter Linksextremist für Umverteilung sorgt.

Tatsächlich hat der anthropomorphe Elefant lange vor der Letzten Generation Straßen blockiert, um gegen den überbordenden Autoverkehr zu protestieren: Schon 1979, in Episode 3, war Blümchen genervt vom Lärm und Gestank, den die motorisierten Blechberge verursachen, und zu allem Überdruss haben sie auch noch Hansi, das Eichhörnchen, plattgefahren. Also schnappt sich der Dickhäuter eine Decke und setzt sich mitten auf eine Kreuzung – wobei er gegenüber menschlichen Aktivist:innen den Vorteil hat, dass er qua Körpergewicht schlecht von der Polizei abgeräumt werden kann. Noch ein Unterschied zur Realität: Am Ende ist der Protest erfolgreich.

Doch nicht alle sind überzeugt, dass Blümchens ikonisches Törööö ein Fanal für den emanzipatorischen Aufbruch ist. Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn rückt den berüsselten Kämpfer eher in die Nähe von Trump-Fans und Pegida, da er „letztlich agiert wie ein besorgter Bürger, also jemand, der seine eigene moralische Weltsicht allen anderen aufzwingen will, die Regeln demokratischer Partizipation verachtet und um jeden Preis sein egoistisches Partikularinteresse gegen alle anderen durchsetzt“.

Beihilfe erhält Wutbürger Blümchen von seiner Komplizin Karla Kolumna, die laut Salzborn im Grunde der „Inbegriff einer Anti-Journalistin“ sei, da sie größtenteils ihre Freunde Benjamin und Otto als Quellen nutze, grundsätzlich parteiisch sei und „jenseits von Fakten und Wahrheit ihre journalistische Tätigkeit generell dafür missbraucht“, ihre eigene Agenda voranzutreiben. „Getragen von einem geschlossenen Weltbild, in dem Widersprüche nicht vorkommen, und beseelt von dem Gedanken, ‚dem Guten‘ zur Umsetzung zu verhelfen. Dieses ‚Gute‘ ist aber immer nichts anderes als der Wille von Benjamin Blümchen, der absolut gesetzt wird.“ An einer Stelle droht Brandstifter Blümchen Andersdenkenden sogar Gewalt an: „Wer Straßen baut, wird vollgehaut“, skandiert er in Episode 76 im Kanon mit aufgepeitschten Kindern.

Im Resultat führt die Agitation der charismatischen Führerfigur dann meist zu einem Happy End für die Neustädter Volksgemeinschaft, deren Interessen als weitgehend homogen porträtiert werden. Im Gegensatz zum schönen, aber naiven Bild einer Lösung, mit der alle zufrieden sind, gelingt der große Konsens in der Parodie nicht: Zur Debatte steht gar, ob Zoodirektor Tierlieb wider Willen enteignet wird. In der letzten Szene entscheidet das Publikum mit, wie der Arbeitskampf gestaltet wird.


„Benjamin Blümchen und der Kampf der Klassen“ am Mittwoch, 10. April 2024 um 19.30 Uhr im Kulturzentrum Komma, Maille 5–9, Esslingen. Der Eintritt kostet zehn Euro. Karten gibt es hier.