von Minh Schredle
Nicht immer bricht sich im Gelächter unbeschwerte Heiterkeit Bahn, glockenhell und in Pastellfarben. Der Stuttgarter Herbert Grammatikopoulos hat 56 Köpfe des deutschsprachigen Kabaretts porträtiert. Hier entpuppt sich Humor als Mittel der Selbstverteidigung gegen den Wahnsinn der Welt.
Humor ist nicht mehr zeitgemäß. So wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Letzteres steht in der FAZ. Und dass sie das ernsthaft gedruckt hat, ist ja doch wieder ein bisschen komisch. Also gut. Überdenken wir den Einstieg noch einmal: Mit Blick auf die Verhältnisse kann einem, einer und erst recht allen dazwischen das Lachen durchaus vergehen. So schreibt Herbert Grammatikopoulos in seiner Würdigung der 2010er-Jahre: “Von einer Weltwirtschaftskrise zur Eurokrise, über die Griechenland-‘Rettung’, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts bekannte, aber geflissentlich ignorierte Klimakrise, den Pferdefleischskandal, die Ungeheuerlichkeit, dass die personifizierte Unfehlbarkeit, der Papst, sein Amt niederlegt, der Arabische Frühling, der zum Winter wurde, NSU, ein Jahrzehnt Krieg in Syrien und nicht zu vergessen die Dutzende regional eingegrenzten Dauerkriege, die zu Fluchtkrisen führten, obendrauf und nebenan die Neo- und Alt-Nazis, Terror in grausamer Form – und für Deutschland besonders wichtig: Autokrise, Dieselkrise – um nur einige wenige zu nennen.”
Aus heutiger Sicht, ist man geneigt, ihm zuzuseufzen: Hach, wie schön das damals war. Die guten, alten Zeiten eben. Als bei all dem auch schon damals grassierenden Wahnsinn doch noch einigermaßen unvorstellbar schien, dass zum Jahresbeginn 2025 der reichste Mann der Welt bei der Vereidigung des US-Präsidenten zwei Mal den Hitlergruß zeigen würde. Doch gerade weil sich “der Unbill der Welt” nicht rein rational auflösen lasse, argumentiert Grammatikopoulos, brauche es Satire zwecks Selbstverteidigung, Humor für angewandte Gegenwartsbewältigung und Witz als intellektuelle Notwehr.
Einen Beitrag dazu hat er kürzlich in zwei Bänden mit je 400 Seiten vorgelegt, unter dem Titel “Die fünfte Gewalt”. Damit meint er nicht etwa parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Plattformen wie Facebook und X, den Lobbyismus, Unternehmens-PR, Aktivistinnen und Aktivisten oder das Bankensystem, die – je nachdem, wen man fragt – ebenfalls als die fünfte Gewalt im Staat firmieren. Grammatikopoulos spricht vom Kabarett, dessen Vielfalt er anhand von 56 Köpfen porträtiert – eine Arbeit, die ihn weit über ein Jahrzehnt beschäftigt hat.
Er könne die Arbeitsstunden unmöglich auflisten, die in das Projekt geflossen sind, erzählt er. Über 500 Auftritte hat er besucht, die Künstlerinnen und Künstler zwischen 2011 und 2021 mehrfach bei ihren Darbietungen fotografiert, ab 2013 die ersten Interviews geführt, dann Layout und Feinsatz übernommen und schließlich im Selbstverlag gedruckt. Letzteres war nicht der ursprüngliche Plan, eigentlich sollte das Buch bei einem großen Verlag erscheinen. Aber der wollte bei den Interviews stellenweise kürzen und das kam für Grammatikopoulos nicht infrage.
Das Projekt ist eine Liebhaberei und ihr Verwirklicher sagt, er könne sehr froh sein, wenn er bei den Kosten am Ende auf Null rauskommt. Auch den Verkauf übernimmt er in Eigenregie, ohne Marketingbudget, oft bei den Aufführungen der porträtierten Künstlerinnen und Künstler, jedenfalls wenn die Spielstätten es zulassen. Die Begeisterung fürs Kabarett, sagt Grammatikopoulos, Jahrgang 1958, habe ihn schon als Jugendlichen gepackt, er war fasziniert von Wortwitz und Schlagfertigkeit. Auch wenn er damals nicht über ausreichend Mittel verfügte, Bühnenprogramme live zu verfolgen. So fing es an mit den “Scheibenwischern” und den “Mitternachtsspitzen” im TV.
Eine erste Begegnung von Angesicht zu Angesicht folgte dann 1994, als er nach einem Auftritt von Hanns Dieter Hüsch im Stuttgarter Theaterhaus ein langes Gespräch mit ihm führen konnte. Grammatikopoulos studierte empirische Kulturwissenschaften und Ethnologie in Tübingen, finanzierte sich das mit Arbeit in einer von ihm mitgegründeten Motorradwerkstatt, reiste als autodidaktischer Fotograf durch Indien, Nepal, Kashmir, Griechenland, Tibet, Myanmar, Thailand und Laos, machte Marketing für die taz (und auch ein gutes Jahr für Kontext), verfasste ein Buch über die Kulturgeschichte des Opiums und süchtige Romantiker wie Goethe, Baudelaire und Novalis. Und er hat sich vorgenommen, neben der “Fünften Gewalt” noch ein drittes Buch zu schreiben. Worum es gehen soll, weiß er noch nicht genau, nur eines ist klar: “Dass ich mir nie wieder so viel Arbeit machen werde.”
Gelächter als Nebenwirkung
Zum Konzept seines “Staunwerks” über das Kabarett gehört, dass allen Beteiligten dieselben 35 Fragen gestellt worden sind und wer mitgemacht hat, frei entscheiden durfte, worauf er oder sie in welchem Umfang antwortet – einige waren eher einsilbig, andere schrieben halbe Romane. Matthias Egersdörfer klagt nach der Hälfte: “Ich krieg jetzt langsam Kopfschmerzen.” Neben den Interviews stellten die Künstlerinnen und Künstler mindestens einen Text und teils bis zu fünf zur Verfügung, häufig in Form von Liedern – meist aus ihren Programmen, vereinzelt sogar exklusiv.
Insgesamt, sagt Grammatikopoulos, habe er sogar 120 Kabarettisten angefragt. Nicht alle haben geantwortet, es kamen Krankheiten und Schwangerschaften dazwischen, ein paar wollten die Kontrolle am eigenen Bild nicht abgeben oder haben beim Absegnen der Interviews festgestellt, dass sie lieber doch nicht dabei sein wollen. Eingangs gibt es eine Widmung für “Drei, die uns zu früh verlassen”: Gerhard Woyda († 2017), Werner Schneyder († 2019) und Dieter Hildebrandt († 2013). Insbesondere letzterer wird immer wieder von Kolleginnen und Kollegen als zentrale Referenz und prägender Einfluss angeführt.
Von Schneyder ist ein Satz zum Selbstverständnis zitiert: “Kabarettisten machen einen Witz, um etwas zu erhellen und nehmen dabei das Lachen in Kauf.” Manchmal wirft das einen Schein auf klaffende Abgründe und Grammatikopoulos berichtet: “Oft konnte ich beobachten, wie das Publikum erst nach und nach die Wucht dessen begreift, was es da zu hören bekommen hat. Es gibt dann diese fast beklemmende Stille, ganz kurz nur, aber man spürt, da hat der Künstler einen Moment erwischt, der das Publikum aus der Annehmlichkeit des reinen Zuhörens und Zustimmens herausreißt.”
Begonnen hat das Buchprojekt mit Georg Schramm. Grammatikopoulos verrät, dass dieser im persönlichen Umgang längst nicht so distanziert und unnahbar sei wie seine Bühnenfiguren rüberkommen – auch wenn das Bedienen von Autogrammjägern Schramms Sache nicht sei und Grammatikopoulos sich nach dem Auftritt lange gedulden musste, um an ihn heranzukommen. Im Interview erklärt Schramm: “Für mich wäre es am einfachsten gewesen, eine Art VHS-Referat zu halten, aber dafür kommt ja niemand. Also mussten meine Referate in Unterhaltung verpackt werden.”
Männer mit Waffen, Senioren mit Sessel
Heute arbeitet Grammatikopoulos im Theater und zieht das Fazit, dass Kabarettistinnen und Kabarettisten im Vergleich nur wenig Starallüren hätten und viel freundlicher seien als zum Beispiel der ein oder andere halbgroße Name aus dem Musikbusiness. Auch wenn viel Begeisterung unverkennbar ist, betont Grammatikopoulos, dass sein Buch keine Hagiografie, also Heiligenbeschreibung sein soll – entscheidend sei für ihn die Grundsatzfrage, ob man sich entscheide, mit Kritik umzugehen oder Kritik zu umgehen. Insofern merkt er an, dass es sich bei dem erreichten Live-Publikum in den allermeisten Vorstellungen in der “absoluten Mehrheit um Bildungsbürgertum fortgeschrittenen Alters” handelt.
Und wie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, macht sich im Buch ein drastischer Männerüberhang bemerkbar. Woran es liegt, dass Frauen im Kabarett unterrepräsentiert sind, ist auch eine Frage im Katalog. Egersdörfer vermutet: “Das Publikum schreckt zum einen vor einer schlauen Frau zurück und möchte auch keiner Frau auf der Bühne zusehen, die zu sehr auf dumm macht.” Annette Postel ergänzt, dass Frauen auf Bühnen meist supersexy aussehen sollen – ein Anspruch, der offensichtlich nicht an männlice Kollegen gestellt wird.
Die Sujets der zur Verfügung gestellten Beiträge reichen von Männern mit Waffen (Max Uthoff) und geheimdienstlichen Aktenschredder-Aktionen im NSU-Komplex (Fatih Çevikkollu) über den Streit um den Sessel auf der Seniorendeponie (Henning Venske) bis zum WLAN, das sich aufgehängt hat (Eva Eiselt): “Es hatte wohl länger schon keinen Sinn mehr gesehen und irgendwie den Anschluss verloren. Das war schrecklich. Vor allem für die Kinder. Das WLAN war immer da, im Gegensatz zu den Eltern.”
Gerhard Polt und die Well-Brüder ausm Biermoos haben ein Gstanzl (einen vierzeiligen Spottgesang) mit Tuba, Alphorn und Akkordeon beigesteuert: Wia des Stuttgard21 entstanden is / Woaß in Bayern jedes Kind: / Da hat a Schwab’ 50 Cent verlor’n / Und hat gschaugt daß er’s wieder findt.
Wie so ein Tag im Leben des Kabarettisten aussieht, beschreibt Thomas C. Breuer: “Wie andere vaterlandslose Charaktere auch schläft der Kabarettist morgens immer bis mittags. Dann steht er auf, möglichst mit dem Kriegsfuß. Noch im Bademantel schmeißt er den Computer an: Ist die Mail vom Pointenverleih da, gibt es Kritiken als pdf-Datei oder Schmähbriefe? Drohungen sind des Kabarettisten Ambrosia. Von Zeit zu Zeit schaut er sogar in seinen toten Briefkasten, wo gelegentlich finanzielle Zuwendungen jener geheimnisvollen Macht zu finden sind, die staatsgefährdende Elemente unterstützt.”
Wie unterschiedlich die Beteiligten ihr Handwerk verstehen, zeigt sich an den Antworten auf ein und dieselbe Frage – etwa ob Zorn den Blick bei der Analyse trüben kann: “Zorn ist Wut mit Abitur. Wut ist gegen die Mülltonne treten. Zorn ist auch gegen die Mülltonne treten – aber vorher den Müll trennen.” (Tina Teubner) – “Ich wünsche mir, dass viel mehr Menschen wütend sind und sich empören. Und zwar über die richtigen Dinge. Die Menschen sind ja durchaus zu Wut imstande – nur richten sie diese leider gegen die Schwächeren.” (Anny Hartmann) – “Ein Ventil, das hin und wieder geöffnet werden muss, sonst platzt man!” (Hans-Joachim Heist alias Gernot Hassknecht) – “Zorn kriecht in den Körper und macht dich zum Terrier, zum perfiden ‘auf den Moment Wartenden’. Wut lässt es raus, lässt ab, reibt sich auf. Und trotzdem: sinnlos. Wie ein Fastfoodburger: Der Nachgeschmack ist scheiße! Kompromisse sind die Heiligen. Kommunikation und Kompromisse. Dazu Empathie und Humor. Herrliches Rezept. Nur laaangweilig. Unspannend. Wie ein Krimi mit unraffiniert Ermordeten. Als Pädagogin, die ich nicht bin, favorisiere ich den Kompromiss! Er bekommt ein goldenes Ehrendenkmal und alle sollen einmal im Monat darum herumtanzen.” (Anna Maria Vogt alias Anna Mateur)
Bei einem scheinen sich die Beteiligten jedoch einig: Kabarett wird die Welt eher auch nicht retten. Dazu Christoph Sieber: “Ich tue ja, was ich kann. Ich bin mir aber auch bewusst: Wenn das, was ich da auf der Bühne mache, zu wirklichen Veränderungen führen würde, dann dürfte ich dort nicht stehen.” Peter Grohmann hat eine Idee: “Vielleicht hilft beten.” Polt kontert mit einer Gegenfrage, nämlich: “Welche Welt? Zum Beispiel hat Karl Valentins Humor sicher etwas verändert. Er hat mir ein Gefühl gegeben, dass es außer dem sogenannten ‘Seriösen’ oder dem ‘Ernsten’ noch eine Möglichkeit gibt, Dinge anders zu sehen. Und so kann eben Humor und Satire auch Welten aufmachen. Nicht die Welt retten im Großen und Ganzen, aber die Welt eines Menschen kann sie erweitern, das macht sie erträglicher. Das kann auch ein Roman. Es geht um die Perspektive: Wenn du lernst, dass es auch eine Froschperspektive oder die eines Regenwurms gibt, dann bist du bereichert.”
Wie Çevikkollu ausführt, geht es schlussendlich um “das befreiende Lachen über die manchmal wahnsinnigen Zustände”. Hier entfalte das Kabarett seinen therapeutischen Effekt: Bekanntlich ist Lachen die beste Medizin (außer bei Krebs).
Herbert Grammatikopoulos: “Die fünfte Gewalt”, Selbstverlag, 848 Seiten, 95 Euro. Bestellungen sind hier möglich.
[zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 721 am 22. Januar 2025]