Staatsanwalt hat sich verhört

Prozess gegen Fabian Kienert, Radio Dreyeckland

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 686 am 22. Mai 2024)

Der Journalist Fabian Kienert steht vor Gericht, weil er einen Link setzte. Damit habe er sich zum „Sprachrohr“ einer verbotenen Vereinigung gemacht, klagt Staatsanwalt Manuel Graulich an. Offenbar hat der Jurist ein paar Zeugenaussagen aber ziemlich falsch verstanden.

Mit großem Aufwand prüft das Landgericht Karlsruhe, ob sich der Journalist Fabian Kienert durch seine Berichterstattung strafbar gemacht hat. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe mit einem seiner Artikel als „verlängerter Arm“ und „Sprachrohr“ der seit 2017 verbotenen Vereinigung „linksunten.indymedia“ Propaganda betrieben. Konkrete Formulierungen, die als Appell zur Unterstützung verstanden werden könnten, enthält der inkriminierte Bericht nicht. Die Anklage stützt sich daher auf eine „Gesamtschau von Indizien“, denn nicht nur wurde der Text bebildert mit einem Graffiti, das den Schriftzug „Wir sind alle linksunten.indymedia“ zeigt. Der Artikel enthält zudem eine Verlinkung auf die „linksunten“-Archivseite.

Um herauszufinden, ob auf dieser Grundlage eine Verurteilung angemessen ist, hat das Landgericht Karlsruhe neun Verhandlungstage angesetzt, vergangenen Donnerstag stand die siebte Sitzung an. Der Kernsachverhalt ist seit Prozessbeginn unstrittig: Kienert, Redakteur beim linksalternativen Freiburger Sender „Radio Dreyeckland“ (RDL), hat von Anfang an eingeräumt, den Artikel verfasst zu haben und die gesamte Verantwortung für die Publikation zu übernehmen. Zwei andere zentrale Fragen werden daher umfangreich geprüft: Kann Kienerts Bericht als strafwürdige Unterstützungshandlung einer verbotenen Vereinigung ausgelegt werden? Und gibt es die Vereinigung „linksunten.indymedia“ überhaupt noch?

Staatsanwalt Manuel Graulich zeigte sich in der Verhandlung bemüht, eine Art Kontaktschuld zwischen Kienert und den „linksunten“-Betreiber:innen nachzuweisen – was bislang nicht gelungen ist. Graulich ist auch verantwortlich für die Hausdurchsuchung in Kienerts Wohnung am 17. Januar 2023, bei der unter anderem ein Laptop, zwei Handys und vier USB-Sticks beschlagnahmt worden sind. Offiziell diente die Beweismittelsicherung dem Zweck, die Urheberschaft des strittigen Artikels zu klären, der online mit dem Kürzel „FK“ gekennzeichnet war. Obwohl Kienert bereits am Tag der Razzia einräumte, den Text verfasst zu haben, wurden die Datenträger mitgenommen. Jetzt drängt die Staatsanwaltschaft darauf, die Kommunikationsinhalte auf den Geräten im Verfahren auszuwerten.

Dadurch verspricht sich Graulich Anknüpfungspunkte, dass Kienert und die mutmaßlichen „linksunten“-Betreiber:innen verabredet haben, ein als Journalismus getarntes Propagandastück in die Welt zu setzen und zwar „einschließlich einer aktiven Verlinkung“ auf die Archivseite. Bislang unterliegen die Kommunikationsinhalte auf den Datenträgern einem Beweisverwertungsverbot, das die Kammer in Karlsruhe aus den im Grundgesetz verankerten Medienrechten wie Quellenschutz und Redaktionsgeheimnis ableitet.

Der Verhandlungstag als „Wiederholungsstunde“

Staatsanwalt Graulich ist hingegen überzeugt, dass in diesem Fall das Interesse an der Strafverfolgung wichtiger sei. Seinem Begründungsversuch im Beweisantrag liegen jedoch erhebliche Verständnisschwierigkeiten zugrunde. Der ganze siebte Verhandlungstag ist laut Kienerts Anwältin Angela Furmaniak eine „Wiederholungsstunde“. Die zwei Zeugen, die angehört werden, wurden beide schon einmal angehört. Die erneute Befragung ist nötig geworden, weil Graulich ihre Aussagen in einem Beweisantrag so eigenwillig ausgelegt hatte, dass sich sogar der Vorsitzende Richter Axel Heim wundert, ob alle Verfahrensbeteiligten wirklich dem gleichen Prozess beigewohnt haben.

So liefert die zweite Anhörung des Sachverständigen York Yannikos wenig Erkenntnisgewinn für den Rest der Verfahrensbeteiligten. Er wurde vom Gericht mit einem technischen Gutachten zu „linksunten.indymedia“ und der Archivseite beauftragt und kam zum Schluss, dass es sehr viele Varianten gebe, wie so eine Archivseite im Netz landen kann, dass dazu auch unbeteiligte Dritte in der Lage wären und dass es unmöglich sei, belastbar zu sagen, welches Szenario nun zutreffe. Der Staatsanwalt hatte ihn bei der ersten Vernehmung so verstanden, dass bestimmte Varianten viel wahrscheinlicher wären als andere und dass sich dadurch unter anderem „konkrete Anknüpfungspunkte“ für fortgesetzte Vereinsaktivitäten ergäben.

Aber der Gutachter will auch in Runde zwei nichts davon bestätigen. Der – noch ausstehende – Nachweis für eine fortgesetzte Aktivität der verbotenen Vereinigung wäre indessen für eine Verurteilung Kienerts von zentraler Bedeutung. Denn um die Vereinigung möglicherweise unterstützt haben zu können, muss sie denklogisch auch existieren. Die im Zuge der Verhandlung befragten Staats- und Verfassungsschützer konnten bislang allerdings keinerlei belastbare Hinweise auf irgendwelche „linksunten“-Aktivitäten seit 2017 vorlegen.

Staatsanwalt Graulich ist trotzdem überzeugt, dass es sie geben muss. So behauptet er im Beweisantrag einfach mal, wenn man die „Inaugenscheinnahme der Kommunikationsinhalte“ auf den bei Kienert sichergestellten Datenträgern erlauben würde, ließen sich sogar „tatsächliche Anknüpfungstatsachen“ finden, dass die „Betreiber der nunmehr verbotenen Vereinigung als Redakteure von RDL die unter dem Schutz der Pressefreiheit stehende Infrastruktur für den Aufbau“ der nunmehr verbotenen „linksunten“-Plattform genutzt hätten.

Eigentlich hat der Zeuge das Gegenteil gesagt

Diese gravierenden Vorwürfe stützt Graulich allesamt auf die Aussage des Zeugen K. vom Freiburger Staatsschutz. Der habe „auf Nachfrage eine anhaltende persönliche Bekanntschaft zwischen dem Angeklagten und dem Betreiberkollektiv der Vereinigung ‚linksunten.indymedia‘ bejahen können“. Anders sieht das jedoch der Zeuge K. selbst. In seiner zweiten Vernehmung kann er auf Nachfrage von Richter Heim eine „anhaltende persönliche Bekanntschaft“ zwischen dem Angeklagten und dem Betreiberkollektiv explizit nicht bejahen [Hervorhebung für Graulich]. Er habe auch keinerlei Kenntnisse darüber, dass „linksunten“-Betreiber für RDL arbeiten würden oder das je getan hätten. Ebenso wenig wisse er etwas davon, dass RDL irgendwann Infrastruktur für „linksunten“ bereitgestellt hätte.

Was der Zeuge vom Staatsschutz allerdings schildert, ist „eine Art Dreiecksbeziehung“ zwischen RDL, der autonomen Antifa Freiburg und „linksunten.indymedia“. Wirklich handfest sind die Ausführungen nicht: So habe K. bei verschiedenen Veranstaltungen der Freiburger Antifa sowohl Kienert als auch [mutmaßliche, d. Red.] „linksunten“-Betreiber:innen beobachten können. Ob es mal ein Gespräch oder auch nur eine Begrüßung gegeben hat, kann der Zeuge nicht beantworten, erinnerlich sei es ihm jedenfalls nicht. Er hält es zudem für möglich, dass Kienert beruflich vor Ort war.

Aus diesen Angaben, die nicht einmal direkten Kontakt bejahen können, eine „stetige persönliche Bekanntschaft“ zu konstruieren, erscheint bereits kühn. Staatsanwalt Graulich geht aber noch weiter und schreibt in seinem Beweisantrag, allein aus dieser [unbelegten] Bekanntschaft und dem Umstand, dass RDL als „erstes Medium überhaupt“ über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die verdächtigten Betreiber:innen berichtet hat, dränge sich bereits „eine Kommunikation zwischen den Beteiligten (hier in Form einer ‚bestellten‘ sympathisierenden Berichterstattung als Sprachrohr für die verbotene Vereinigung und deren Online-Archiv) auf“.

Richter verteidigt Angeklagten

Die von jeglichen Fakten befreite Unterstellung, dass ein womöglich krimineller Verein sympathisierende Berichterstattung „bestellt“ und sich ein Redakteur bereitwillig als Sprachrohr einspannen lässt, ist bereits ein Frontalangriff auf journalistische Integrität – erst recht, wenn nicht ein einziges ernstzunehmendes Indiz vorliegt, dass es überhaupt eine Kommunikation gegeben hat. Es ist aber noch lange nicht das dreisteste, was sich Graulich hat einfallen lassen.

So sieht der Staatsanwalt noch etwas, das er als „objektiven Anknüpfungspunkt“ ausgibt, und zwar dafür, dass „der Angeklagte sich selbst weniger als einen am ‚Pressekodex‘ orientierten Journalisten, sondern als einen der linken Szene zuzuordnenden politischen Aktivisten einordnet“. Das schlussfolgert Graulich aus dem Umstand, dass der Angeklagte nach der Razzia in seiner Wohnung „bundesweite Reaktionen der linken Szene angekündigt“ habe. Diese Wortwahl findet Graulich nicht besonders journalistisch, er glaubt nicht, dass die „Tagesschau“ mit dieser Formulierung über den Vorgang berichtet hätte, sagt er in der in der Verhandlung. Zudem läge „Aktivismus in der DNA linker Medien“.

Auch hier stellt sich die Frage, wie überzeugend die Argumentation ist. Denn Kienert hat die „bundesweiten Reaktionen der linken Szene“ keineswegs in einem seiner Artikel angekündigt, wie der Verweis auf die „Tagessschau“ nahelegen würde. Angeblich soll er es gegenüber einem Ermittlungsbeamten angekündigt haben, nachdem sich acht schwer bewaffnete Polizisten frühmorgens Zugang zu seiner Privatwohnung verschafft haben und er etwas fassungslos war, dass dieses Aufgebot durch eine Verlinkung begründet sein soll. Ob Kienert die zitierte Aussage aber überhaupt getätigt hat, ist ebenfalls unbelegt, weil der Angeklagte das polizeiliche Protokoll zu seiner Vernehmung nach dem Einsatz nicht unterschrieben hat und der Beweiswert damit hinfällig ist.

Die haltlosen Unterstellungen in Grauliches Beweisantrag gehen sogar so weit, dass sich neben Rechtsanwältin Furmaniak auch der Vorsitzende Richter zu einer Verteidigung des Angeklagten genötigt sieht. Laut Heim würden sich die Ausführungen der Staatsanwaltschaft „an der Grenze zum Ehrabschneidenden“ bewegen, er halte sie für „rechtlich problematisch“. Die Kammer habe sich veranlasst gesehen, Kienerts Berufsbild zu prüfen und komme zum Ergebnis, dass dieses „primär journalistisch“ sei. Entsprechend gebe es auch keinen Anlass, die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit für ihn weniger stark zu berücksichtigen – so wie es Graulich in seinem Beweisantrag fordert.

Graulichs letzte Hoffnung: ein 14 Jahre altes Interview

In einem letzten Versuch, vielleicht doch noch irgendwie einen Kontakt zwischen Kienert und wenigstens einem der mutmaßlichen „linksunten“-Betreiber nachzuweisen, führt der Staatsanwalt ein RDL-Interview von 2010 an. Die zwei Personen, die zu hören sind, wurden von der Redaktion anonymisiert. Graulich aber glaubt, das könnten Kienert und ein „linksunten“-Betreiber gewesen sein. Ob er sich zutraue, die Stimmen zu identifizieren, fragt er den Zeugen K. vom Freiburger Staatsschutz. Der verneint, überlegt aber kurz. „Wenn das jemand kann, dann der Kriminalbeamte H. Der hat schon viele Vernehmungen durchgeführt.“

Sofort liebäugelt der Staatsanwalt mit der Idee, den Kriminalbeamten H. als Zeugen anzuhören. Die Kammer aber scheint nicht überzeugt, wo genau der Erkenntnisgewinn liegen soll. Einmal ist das Interview ja nun schon 14 Jahre alt und selbst wenn eine Identifikation in Graulichs Sinne gelänge, wäre diese kaum geeignet, einen Kontakt im Zusammenhang mit der inkriminierten Berichterstattung nachzuweisen. Zum anderen wäre eine Identifikation durch den Kriminalbeamten H. als Beweismittel wertlos, weil eine polizeiliche Einschätzung nicht ausreicht und es im Zweifel ein professionelles Sprechgutachten anhand von Sprachproben bräuchte.

Der Staatsanwalt sagt schließlich, er wolle das „Verfahren nicht in die Länge“ ziehen – aber er will zumindest mal anfragen beim Kriminalbeamten H. Indessen klagt die Karlsruher Staatsanwaltschaft, zuständig für politische Kriminalität in Baden-Württemberg, über ein hohes Arbeitspensum. Auf dem taz-Blog „theorie als praxis“ musste eine Autor:in vertröstet werden, dass sich die Beantwortung einer Presseanfrage verzögere. Die Personalsituation sei derzeit „extrem angespannt“, dadurch sei es nötig, „bei der Erledigung der Aufgaben stark zu priorisieren“.

Noch nicht ganz klar ist, wo die Prioritäten im Verfahren gegen Fabian Kienert liegen. Möglich wäre, dass die Beweisaufnahme an einem Ende angelangt ist und bereits in der kommenden Sitzung, am 4. Juni, die Plädoyers anstehen. Denkbar ist aber auch, dass weitere Verhandlungstage angesetzt werden müssen und sich das Prozedere um Monate verzögert. Abhängig ist das auch davon, wie das Gericht über Graulichs Beweisantrag entscheidet, wie ernsthaft der Staatsanwalt die Idee eines Sprechgutachtens weiterverfolgen will und ob er noch weitere Ideen für Beweisanregungen hat.

Transparenzhinweis: RDL-Redakteur Fabian Kienert verfasst als freier Autor Texte für Kontext.

Wie es zur Verhandlung kam

•  Am 25.8.2017 verbietet das Bundesinnenministerium „inksunten.indymedia“, weil es „das derzeit wichtigste Informations- und Propagandamedium für die linksextremistische Szene im deutschsprachigen Raum“ sei.
•  Zeitgleich finden auf Antrag von Staatsanwalt Manuel Graulich diverse Hausdurchsuchungen in Freiburg statt, auch im linksalternativen Zentrum KTS. Dabei werden zahlreiche Datenträger beschlagnahmt.
•  In der Folge wird gegen fünf Personen ermittelt, die angeblich die Plattform „linksunten.indymedia“ betrieben haben. Dem baden-württembergischen Landeskriminalamt gelingt es nicht, die Verschlüsselung der beschlagnahmten Datenträger zu knacken.
•  Am 12.10.2020 stellt das Verwaltungsgericht Mannheim fest, dass die Hausdurchsuchung im Zentrum KTS rechtswidrig war.
•  Am 29.7.2022 wird bekannt, dass das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen die fünf mutmaßlichen Betreiber:innen eingestellt worden ist, da keine ausreichenden Beweise für eine Anklageerhebung gefunden werden konnten.
•  Am 30.7.2022 berichtet „Radio Dreyeckland“ (RDL) über die Einstellung des Verfahrens. Redakteur Fabian Kienert schreibt den Satz „Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite“ und setzt einen entsprechenden Link. Die Meldung ist mit dem Autorenkürzel „FK“ versehen.
•  Am 17.1.2023 werden die Wohnung des RDL-Geschäftsführers sowie die des RDL-Redakteurs Fabian Kienert durchsucht, offiziell um die Urheberschaft des Artikels vom 30.7.2022 zu klären. Aus Polizeiunterlagen geht hervor, dass das Kürzel „FK“ schon vorab Fabian Kienert zugeordnet worden war.
•  Am 16.5.2023 lehnt das Landgericht (LG) Karlsruhe die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen Kienert ab, weil keine Strafbarkeit vorliege. Staatsanwalt Graulich legt Beschwerde vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ein.
•  Am 12.6.2023 hebt das OLG Stuttgart den Beschluss des LG Karlsruhe auf und lässt die Anklageerhebung zu.
•  Am 2.8.2023 kommt es auf Antrag von Staatsanwalt Graulich zu erneuten Hausdurchsuchungen in Freiburg, betroffen sind erneut die fünf mutmaßlichen Betreiber von „linksunten.indymedia“. Erneut werden Datenträger beschlagnahmt, erneut gelingt es den Behörden nicht, sie zu entschlüsseln.
•  Am 18.4.2024 startet das Hauptsacheverfahren gegen Kienert vor dem LG Karlsruhe (Kontext berichtete über den Prozessauftakt).  (min)

Siehe auch: „Ein Tiefpunkt der Justiz“ von Minh Schredle