Nun reicht’s auch der bürgerlichen Mitte

Ein sehr breites Bündnis stellt sich in Göppingen gegen die AfD

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 653 am 4. Oktober 2023)

Der AfDler Hans-Jürgen Goßner schikaniert die Grüne Ayla Cataltepe. Seit Jahren, bei jeder Gelegenheit. Nach einer Eskalation auf dem Stadtfest im gemeinsamen Wahlkreis Göppingen reagiert nun die Zivilgesellschaft.

Die Göppinger Zivilgesellschaft sei „zutiefst alarmiert“, heißt es im Manifest der demokratischen Solidargesellschaft, das ein breites Bündnis von Parteien und Organisationen am vergangenen Dienstag vorgestellt hat. Mit dabei sind Sozialverbände, Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften, Wirtschaftsvertreter und alle demokratischen Parteien im Göppinger Gemeinderat, von FDP bis Linke. Sie haben zusammengefunden nach Vorfällen auf dem diesjährigen Stadtfest, das ein „Ort der Freude, des Miteinanders und der kulturellen Vielfalt sein“ sollte, wie es im Manifest heißt. Doch dieses Mal seien die Feierlichkeiten durch das „übergriffige Verhalten“ des AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Jürgen Goßner und seiner Sympathisanten überschattet worden.

Was genau passiert ist am 10. September 2023, wird wohl demnächst vor Gericht rekonstruiert. Verschiedene Anzeigen sind gestellt, Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln zu einem Vorgang, zu dem die verschiedensten Erzählungen kursieren. Die rechte Variante geht so: Einen „blutigen Streit“ soll es laut der „Bild“-Zeitung zwischen der grünen Landtagsabgeordneten Ayla Cataltepe, Wahlkreis Göppingen, und dem „AfD-Rentner“ Dieter B. gegeben haben. Dabei sei die 51-Jährige „ausgeflippt“ und habe angegriffen, schreibt das Boulevard-Blatt, zeigt den Senioren mit dunkelroten Striemen am Unterarm und leidendem Blick.

AfD-Feindbild: Frau, grün, alleinerziehend

Schuld an der Verletzung sollen angeblich Cataltepes Fingernägel sein. Mehrere rechte Medien haben diese Darstellung übernommen. Doch in der FAZ kündigt Cataltepe an, sie werde sich gegen diese „haltlosen Anschuldigen“ wehren. Sie spricht von einer Inszenierung. Und erzählt die lange Vorgeschichte der Konflikte zwischen ihr und einem AfD-Abgeordneten, der ihr schon seit geraumer Zeit nachstellt, um sie gemeinsam mit seiner Anhängerschaft zu verhöhnen und zu triezen

Unabhängig vom Ausgang etwaiger Gerichtsverfahren darf als gesichert gelten, dass das Verhältnis zwischen Ayla Cataltepe und Hans-Jürgen Goßner ein belastetes ist. Beide sind Landtagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Göppingen. Damit dürften die Gemeinsamkeiten ein Ende haben. Cataltepe verkörpert viel von dem, was AfD-Männer hassen: Sie ist alleinerziehend, hat türkische Wurzeln und dann ist sie auch noch eine grüne Frau. Ob es an dieser Kombination liegt, dass Goßner ihr gegenüber offenbar eine Art Obsession entwickelt hat? Kaum eine Cataltepe-Veranstaltung, ohne dass Goßner und sein Rudel aufkreuzen. Mit einem Megafon bewaffnet wird dann gerissen, was in solchen Kreisen als Witz durchgeht. Oft präsentiert die Goßner-Gang dabei einen roten Kinderroller, der einem Gefährt zum Verwechseln ähnlich sieht, das Cataltepe und ihrer Tochter im Sommer 2021 geklaut wurde.

Gegenüber dem „Spiegel“ spricht die Grüne von gezielten Provokationen und „Psychoterror von rechts“. Auch beim Göppinger Stadtfest sind Goßner und Cataltepe aneinandergeraten. Laut „Spiegel“ hat Goßner Handy-Bilder vor Cataltepes Wahlkampfbüro gemacht, daraufhin eskalierte ein Streit zwischen den Abgeordneten. Sie sei bedrängt worden, sagt Cataltepe und versichert in Bezug auf die blutigen Kratzer auf dem Rentnerarm: „Die Verletzung ist nicht von mir“, die Straftat sei vorgetäuscht, die rote Linie nun endgültig überschritten.

Nun reicht’s auch der bürgerlichen Mitte

Die überregionalen Schlagzeilen und die konsequenten Provokationen Goßners haben der knapp 60.000-Einwohner-Stadt nun eine ungewöhnliche Allianz beschert: „So viel Einigkeit ist selten“, erklärt Oberbürgermeister Alexander Maier (Grüne), der das aus Erfahrungen mit dem Gemeinderat sagen kann. Dort arbeiten CDU und Piraten eher selten an gemeinsamen Manifesten. Am Tag der Deutschen Einheit hat Maier ein Grußwort auf dem Göppinger Schillerplatz gehalten. Versammelt sind ein paar hundert Menschen, denen man auf den ersten Blick gar nicht angesehen hätte, dass es sich um Demonstrant:innen handelt. Keine Plakate, keine Banner, keine Parteilogos. Nicht einmal eine MLPD-Fahne hat sich hierher verirrt.

Gabi Merkler betont, dass ausdrücklich erbeten war, auf Parteienwerbung zu verzichten. Sie ist Vorsitzende von Göppingen nazifrei und hat die Kundgebung angemeldet. Dass trotz kurzer Vorbereitungszeit so viele auf den Schillerplatz gekommen sind, freut sie. Dort sind bei 26 Grad am 3. Oktober insbesondere die Schattenplätze begehrt. Das Programm ist schlicht: Nach dem Grußwort des Oberbürgermeisters verliest die Schriftstellerin Tina Stroheker das gemeinsame Manifest. „Heute, in einer Zeit, in denen die freiheitlich-demokratische Grundordnung angefochten wird, ist es unsere Pflicht, gemeinsam für unsere Grundwerte einzustehen.“ Dabei „werden wir uns nicht von Extremismus, Populismus und Spaltung einschüchtern lassen“. Dann singen die Versammelten Beethovens Ode an die Freude und viele unterzeichnen das Manifest, das ausgedruckt und auf großen Tafeln ausgestellt wurde.

Der Schulterschluss von Organisationen gegen AfD-Umtriebe ist ein wichtiges Zeichen, während überall im Land die Brandmauern bröckeln. Zumal in Göppingen und Umgebung die AfD verhältnismäßig stark ist. Im Gemeinderat stellt sie vier von 40 Stadträten, bei der Landtagswahl 2021 holte sie in der Stadt zwölf Prozent. Seit 2009 traten Rechtsextreme hier mit diversen Aktionen in Erscheinung, in Reaktion darauf gründete sich 2012 das Bündnis Kreis Göppingen nazifrei. Die Zusammensetzung der Göppinger Demonstrationsgemeinde zeigt aber auch: Es wäre schön, wenn sich gegen den erstarkenden Faschismus auch ein paar jüngere Menschen engagieren würden.