Gekränkte Randfiguren

Beobachtungen aus dem libertären Paralleluniversum in der Stuttgarter Liederhalle

von Minh Schredle

Treffen sich ein Whisky-Experte, ein Untergangsprophet und eine abgesägte Parteichefin, heißt die Pointe: Bürgergipfel. Beobachtungen aus dem libertären Paralleluniversum in der Stuttgarter Liederhalle.

Ein Mann schnaubt aufgebracht. “Wer hat denn diesen Raum für den Krall organisiert?”, fragt er fassungslos. Er hätte gerne den als Stargast anmoderierten Goldverkäufer Markus Krall gesehen, aber in dem Zimmer in der Stuttgarter Liederhalle, das die Veranstalter “Bitcoin Hotel” genannt haben, sind die 40 Stühle schon eine halbe Stunde, bevor es losgeht, besetzt. Ein paar Interessierte haben sogar auf dem Boden Platz genommen, aber jetzt ist das Boot endgültig voll. Die Spannung steigt, doch der Stargast lässt auf sich warten. Also startet die Podiumsdiskussion schon mal mit Moderator Marc Guilliard und dem Whisky tastenden Youtuber Horst Lüning. Guilliard ist manchmal deprimiert, wenn er die Nachrichten guckt. Lüning hat einen Tipp: “Tagesschau” abschalten. “Was geht das mich, meine Familie oder mein Umfeld an?” Um die ganze Welt kann er sich ja eh nicht kümmern.

Lüning vertritt eine Theorie der gesellschaftlichen Zyklen, die sich im Wesentlichen so zusammenfassen lässt: Harte Zeiten erzeugen harte Kerle. Harte Kerle erzeugen gute Zeiten. Gute Zeiten erzeugen schwache Memmen. Schwache Memmen erzeugen harte Zeiten. Das sei laut Lüning “wie ein Naturgesetz”, jetzt gerade stehe wieder ein großer Kollaps bevor. Da hilft auch kein US-Präsident Trump, von dem sich Lüning “viele gute Sachen” verspricht. “Aber nicht einmal er wird den Untergang aufhalten können.” Gerade will Lüning erklären, wie die Gesamtmisere mit der vor gut 50 Jahren aufgehobenen Goldbindung des Dollars zusammenhängt – da taucht endlich Markus Krall auf. Das Publikum wirkt elektrisiert.

Überlebt der Bitcoin wohl den Zusammenbruch?

Es ist der erste sogenannte Bürgergipfel, ausgerichtet in der Stuttgarter Liederhalle, initiiert von Medienunternehmer Oliver Gorus, der das libertäre Magazin “Der Sandwirt” herausgibt. Zum Bürgergipfel erschien eine Sonderausgabe. Im Beitrag “Die Mauer muss weg” heißt es da: “Wer Mauern, ob Antifaschistische Schutzwälle oder Brandmauern, hochzieht, dem geht es nicht um Demokratie, auch zeigt er wenig Neigung für demokratische Verfahren, nein, er erhebt sich über den Souverän, den er meint, zu belehren und schurigeln zu müssen.”

Aber zurück zum Geschehen in der Liederhalle: Das Programm ist so voll, dass mehrere Veranstaltungen parallel stattfinden. Während der aus der RTL-Show “Das Strafgericht” bekannte Jurist Carlos A. Gebauer im Hegel-Saal vor etwa 800 Zuschauer:innen das Hauptprogramm eröffnet, sinnieren Krall, Guilliard und Lüning über den bevorstehenden Untergang (Krall und Lüning präsentieren ihre Thesen später noch einmal in Individualvorträgen auf der Hauptbühne). Goldverkäufer Krall regt an, Gold zu kaufen, weil Papiergeld nach dem nächsten großen Crash nichts mehr wert sein werde. Moderator Guilliard interessiert sich eher für Bitcoins. Im Hauptberuf ist Guilliard Co-Manager des Plochinger Hotels Princess, das sich selbst als Bitcoin Hotel Nummer 1 bezeichnet, weil es regelmäßig Bitcoin-Veranstaltungen organisiert (und als Partner des Bürgergipfels gelistet ist).

Krall dagegen will erst einmal abwarten, wie sich der Bitcoin-Kurs in einer Großkrise entwickelt. Könnte sein, dass die Kryptowährung sich gut macht, dann werden manche steinreich, und “als Kölner” kann Krall das den potenziellen Gewinnern sogar gönnen. Aber er sei unsicher, wie die Bitcoin-Infrastruktur zum Beispiel auf einen anhaltenden Stromausfall reagieren würde. Lüning wendet ein, dass eine Goldmünze schwierig teilbar sei, wenn man nach dem Zusammenbruch der Zivilisation ein Brot kaufen möchte. Aber Krall hat längst voraus gedacht: Deswegen rät er allen, sich mindestens 200 bis 300 Unzen Silber anzuschaffen, um auch in Zukunft nach dem Kollaps die Dinge des täglichen Bedarfs bezahlen zu können. Dann will der Moderator wissen, wie Krall eigentlich mit dem ganzen Hass umgeht, der ihm entgegenschlägt, etwa wenn ihn Medien aufgrund seiner Prognosen den “Crash-Propheten” nennen.

Krall entgegnet, er möchte mal sehen, wer zuletzt lacht, wenn er mit Gold- und Silberreserven und “vielleicht einer Armbrust” im Garten sitzt, während die “Antifanten” verhungern. Bei der Antifa handele es sich laut Krall um bundesweit 2.000 bis 3.000 Leute, allesamt “bezahlte Jubelperser”, der “Staat leistet sich eine moderne SA”, eine “terroristische Schlägertruppe”. Krall verlässt das Haus nur noch in schusssicherer Weste.

Wie genau sie jetzt ihr Demogeld vom Staat bekommen, wüssten gerne die 150 Personen, die vor der Liederhalle gegen den Bürgergipfel protestiert haben. Sie kritisierten unter anderem, dass den Veranstaltern ein öffentliches Gebäude für “krude Propaganda” zur Verfügung gestellt worden ist. Markus Krall will die Demo auch gesehen haben und behauptet, da stünden 20 Kinder, “dumme Gören, die dumm geblieben sind”. Sollte das seiner tatsächlichen Wahrnehmung entsprechen, ist die kognitive Dissonanz vielleicht noch größer, als seine sonstigen Ausführungen vermuten lassen.

Wer die finsteren Mächte sind, weiß keiner

Er findet zudem, unbescholtene Bürger sollten Schusswaffen tragen dürfen, um von ihrem grundgesetzlich verankerten Recht auf Widerstand Gebrauch machen zu können. Den Schwarzmarkt bezeichnet er als “Notwehr gegen den Staat”, es sei “überlebenswichtig”, Wege zu finden, den Staat auszutricksen. Der Moderator erkundigt sich: “Also, man ist dann ja heute auch schnell Verschwörungstheoretiker. Und meine Lieblingsverschwörungstheorie ist: Also Aliens sind vielleicht weit her geholt, aber ich höre immer wieder, dass die Politik von finsteren Mächten fremdgesteuert wird. Stimmt das?” Whisky-Kenner Lüning ist sich sicher: “Natürlich.” Wer genau da fernsteuert, kann er auch nicht sagen. Aber man müsse sich nur anschauen, wie alles einem großen Plan folge – und die regierende “Negativauswahl” sei schlicht zu dumm, sich einen solchen Plan auszudenken. Jetzt will Guilliard erst recht wissen, wer der “Hauptakteur” ist. Aber auch Krall muss passen, er wüsste es ja selbst gerne. Jedenfalls schließt er aus, dass es der oftmals verdächtigte Klaus Schwab vom World Economic Forum ist, der sei auch nur “ein Schauspieler, ein Lakai, der hat gar nichts zu sagen”. Kralls gegenwärtig größte Hoffnung sei, dass sich die “Geheimloge” intern zerstreitet, was er für gut möglich hält, da deren ganzes Leben ja nur aus Intrigen bestehe.

Guilliard will zum Abschluss noch etwas Aufbauendes hören. Beim Crash-Prophet klappt das so mittelgut: Er glaubt, erst kollabiert alles, aber das könne auch zu einer Katharsis werden, einer Reinigung durch Schmerz, in deren Folge anständige Menschen eine ordentliche Welt aufbauen. Doch ganz ohne Drohkulisse geht es nicht: Wenn sich nach dem Kollaps der Sozialismus durchsetzt, wird es laut Krall “genozidal” (welches Volk der Sozialismus ermorden will, behält er allerdings für sich).

Auch wenn Exponenten wie Krall einigermaßen skurril erscheinen, ist das Wertfundament der libertären Bewegung eher keine lustige Randerscheinung. Die Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey stellen in ihrem 2022 erschienenen Buch “Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus” fest: “In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen.” Und weiter: “Die Anhänger:innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden.”

Libertär durch Kränkung und Schamgefühle

Die libertäre Bewegung ist keine Rebellion gegen, sondern eine zustimmende Haltung zu den Freiheitsnormen der Marktwirtschaft wie Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Souveränität; zumindest wollen sie Letztere selbst ausüben können – und reagieren allergisch auf alles, was dieses Freiheitsverständnis einschränken könnte. Laut Nachtwey und Amlinger werde Erfolg in weiten Teilen der Gesellschaft mit erbrachter Leistung verbunden. Wo aber der Erfolg eines leistungsfokussierten Libertären ausbleibe, stelle sich zwangsläufig die Kränkung ein: “Die Scham, nicht den Ansprüchen zu genügen, führt zu tiefen Selbstzweifeln. Insbesondere in einer sozialen Atmosphäre der Ungewissheit, in der Aufstiegshoffnungen von Statusblockaden konterkariert werden, ist das Streben des Einzelnen mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert – und verwandelt sich in bittere Benachteiligungsgefühle.”

In der Folge wird die Schuld am Scheitern auf Sündenböcke abgewälzt, etwa weil sich arm wähnende Libertäre zur Überzeugung gelangen, dass bei der Jobvergabe nicht nach Eignung, sondern zugunsten von Frauen oder Diversität entschieden worden sei. Entsprechend beklagen die Libertären allerlei Vorschriften und Verbote, die sich in ihrem Weltbild, so Amlinger und Nachtwey, der “Mainstream” oder neuerdings die “Woken” ersonnen haben sollen: “Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungekannten Ausmaßes vorbereiten.”

Und der Bürgergipfel versammelt bekannte Figuren der Bewegung: Die abgesägte AfD-Chefin Frauke Petry, Höcke-Anwalt und CDU-Mitglied Ulrich Vosgerau und der ehemals in Medienkreisen renommierte Roland Tichy – sie alle haben in den vergangenen Jahren erheblich an Status eingebüßt, sodass sie nun bitterlich über das Phänomen der sozialen Ächtung klagen, das sich Massen der Schwachen ausgedacht hätten, um die wenigen Starken auszubremsen. Im Grunde ist der Bürgergipfel ein großes Schaulaufen von gescheiterten Figuren eines gesellschaftlichen Rands, der zunehmend zur Mitte wird. Der Applaus des Publikums ist dann am lautesten, wenn sie auf den Bühnen der Liederhalle über angebliche Versager herziehen, bevorzugt die Grünen.

Grünen-Bashing funktioniert immer

Das hat auch SPD-Mitglied Fritz Vahrenholt festgestellt, der in seiner Partei nur noch wenig Wertschätzung erfährt. In einem “Stammtisch” genannten Zimmer referiert er vor einer Fototapete mit aufgedruckten Weinflaschen: “CO2 ist ein Klimagas und trägt zur Erderwärmung bei.” – “Quatsch!”, ärgert sich eine Zuschauerin und verlässt den Raum. So verpasst sie Vahrenholts Nachsatz, dass der menschliche Einfluss auf das Klima viel kleiner sei als angenommen und er es deswegen für Irrsinn hält, den deutschen Wohlstand für Schutzmaßnahmen zu opfern. “Wir sind der Geisterfahrer, die anderen schauen uns an und lachen.” Mitgerissen sieht das Publikum nicht aus. Vahrenholts Mundwinkel hängen tief.

Dann aber merkt er, dass Grünen-Bashing gut ankommt und dreht auf: “Ein großer Teil der Grünen ist wie eine Wassermelone: außen grün, innen rot.” Verhaltenes Gelächter. “Weil die antikapitalistisch drauf sind, freuen sie sich, die Industrie zu zerstören. Die Grünen sind eine autofeindliche Partei!” Erkennbarer Zuspruch. Vahrenholt setzt ein schiefes Grinsen auf: “In Wahrheit steckt aber noch mehr dahinter: Sie wollen nicht, dass wir unseren eigenen Kopf und unseren eigenen Willen benutzen.” Großer Jubel. Dann zieht der Mann über die SPD und Scholz her, redet etwas von “interessierten Medien”, die die Kernenergie kaputt gemacht hätten. Auch Fracking-Gas werde durch Framing in ein viel zu schlechtes Licht gerückt, und zwar durch “KGB-infiltrierte Influencer” und Greenpeace.

Zu den Sponsoren des Bürgergipfels zählt das Kernkraft-Unternehmen Copenhagen Atomics. Auch das pseudowissenschaftliche Desinformationsinstitut EIKE, das organisierte Klimawandelskepsis verbreitet, ist als Partner gelistet. Da die libertäre Blase bekannt dafür ist, den menschlichen Einfluss auf die Erderhitzung zu verharmlosen oder ganz zu bestreiten, haben sich die Stuttgarter Scientists for Future Gedanken gemacht, wie sie mit dem Bürgergipfel umgehen sollen. Weil sie hoffen, dass zumindest ein Teil des Publikums noch durch rationale Argumente erreichbar sein könnte, haben sie vor der Liederhalle eine Gesprächsecke aufgebaut mit ein paar Sesseln, Sitzkissen und einem langen Zeitstrahl, der die Entwicklung der Durchschnittstemperaturen über die Jahre aufzeigt.

Ein älterer Herr hat die Hände in die Hüfte gestemmt. Er klärt die Klimaforscher:innen gerade auf, was es mit der Klimaforschung auf sich hat. Er habe da “ein ganz wunderbares Buch gelesen, von einem Australier. Der heißt … ja, wie hieß er noch gleich? Egal! Der war jedenfalls auf allen Konferenzen dabei. Da kann man nachlesen, dass das alles von den USA finanziert wird!” Der Mann weist auf den Zeitstrahl: “Wann geht denn jetzt die Welt unter? Sagt doch mal das Datum? Ihr macht uns doch absichtlich Angst. Sogar meine Enkel machen sich schon Sorgen.” Er schluchzt jetzt fast.


[zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 702 am 11. September 2024]