Bullshit-Arbeit, Klimakrise und das Versagen des Prinzips Gelderwerb

Von Lothar Galow-Bergemann

Statement auf der Podiumsdiskussion „Ökologische und soziale Frage zusammendenken! Und wie sieht die Zukunft der Arbeit aus?“ des Vereins Teilhabe e.V. am 11. Mai 2023 in Berlin

Die ganze Veranstaltung wurde bei Radio Aktiv Berlin gesendet ist dort nachzuhören

Frage: Die Krisis-Gruppe hatte ja anfangs die Klimakrise nicht im Mittelpunkt. Was ist von ihrer Theorie trotzdem für die Klimabewegung interessant? Welchen Stellenwert hat eine Theorie aktuell in der Kooperation zwischen Klima- und Arbeiterinnenbewegung?

Die Klimakrise stand tatsächlich nicht im Mittelpunkt für krisis, als die Gruppe in den 80er Jahren entstand. Doch seit langem befasst sie sich auch ganz explizit damit. 2020 erschien z.B. das Buch „Shutdown. Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus“. Ich persönlich halte seit über zehn Jahren Vorträge wie „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte von Nachhaltigkeit schweigen. Warum wir mit ‚unserer Wirtschaft‘ nie eine nachhaltige Gesellschaft erreichen werden.“ Implizit war die Klimakrise allerdings von Anfang an bei krisis mitgedacht. Denn krisis geht davon aus, dass die Logik des Kapitals zwangsläufig in die globale Katastrophe führt, wenn es nicht gelingt, aus ihr auszusteigen. Krisis unterscheidet sich von anderen durch eine spezifische Krisentheorie (daher auch der Name). Kapitalistische Krise heute ist weit mehr als die bekannten „Überproduktions/Unterkonsumtionskrisen“ mit ihren schweren sozialen Folgen. Der Kapital-Ismus befindet sich in einer fundamentalen Systemkrise. Er untergräbt zunehmend seine eigene Grundlage – die Arbeit. Auslöser ist der historisch präzedenzlose Produktivkraftschub durch die Mikroelektronik, der in den 70er Jahren begann. Das Wissen wird zur maßgeblichen Produktivkraft. Die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft allein reicht für die Kapitalakkumulation nicht mehr aus, sie benötigt dafür zunehmend die Finanzmärkte. Das ist der Hintergrund für die Aufblähung der gigantischen Finanzblasen, von denen die Weltwirtschaft und damit unser aller Leben abhängt. Die Blasen werden immer größer und haben eine unangenehme Eigenschaft: sie können platzen – und mit ihnen die ganze Gesellschaft.

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Mehr Wronsky wagen

Plädoyer für ein neues 20.-Juli-Gedenken

Von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 20. Juli 2023 – 2 Av 5783 bei haGalil.com)

Der 20. Juli ist ein geschichtsträchtiges Datum, das die Frage aufwirft, wer Platz in der deutschen ›Erinnerungskultur‹ findet und wer (bislang) nicht.

Stauffenberg – ambivalenter Held mit festem Platz in der deutschen Erinnerungskultur

In erinnerungspolitischer Hinsicht denken die meisten Deutschen beim 20. Juli sofort an das gescheiterte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944). Selbstverständlich ist es Stauffenberg positiv anzurechnen, dass er 1943 zur Umsturzbewegung stieß und am 20. Juli 1944 unter Einsatz seines Lebens versuchte, der nationalsozialistischen Barbarei ein Ende zu setzen. Dies vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Stauffenberg Jahre lang ein willfähriges Glied ebendieser Barbarei gewesen war. Der deutsche Überfall auf Polen bereitete dem Offizier Stauffenberg gar berufliche Befriedigung, da er sein über viele Jahre erworbenes Wissen nun in der Praxis anwenden und sich militärischen Herausforderungen stellen konnte. In einem Feldpostbrief an seine Familie vom 14. September 1939 beschrieb er die Bevölkerung in den eroberten Gebieten Polens wie folgt:

»Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.«i

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Moderne Naturverhältnisse

Antikapitalismus zwischen Naturbeherrschung und Wissenschaftskritik

Workshop und Diskussion mit Julian Bierwirth

Dienstag, 1. August 2023, 16.30 – 18.00 Uhr, Hannover

im Rahmen des System Change Camp (Ende Gelände) in Hannover (UG-Zelt), 16.30 – 18:00 Uhr. Das Camp findet statt im Georgengarten Hannover

In der Klimagerechtigkeitsbewegung prallen zwei unterschiedliche Vorstellungen davon aufeinander, wie gesellschaftliche Naturverhältnisse jenseits von Raubbau und Naturzerstörung gedacht werden können.
Einerseits gibt es eine Vorstellung, die aus der marxistischen Tradition stammt. Sie fasst die Natur als etwas außerhalb des Menschen stehendes, auf das der Mensch äußerlich zugreift. Er tut dies durch den Einsatz von Werkzeugen und die Verbesserung dieser Werkzeuge gilt dann als die Geschichte der menschlichen Zivilisation (“Produktivkraftentwicklung” heißt das dann). Als Problem im Kapitalismus gilt es dann, dass die Naturbeherrschung unkontrolliert von einzelnen Unternehmen verantwortet wird (“Privateigentum an Produktionsmitteln”). Der Ausweg aus den ökologischen Krisen liegt dann in einer verbesserten Naturbeherrschung, nur diesmal demokratisch legitimiert und egalitär verteilt. So wird der Staat zum zentralen Modus der Krisenlösung – eine Position, die wir beispielsweise bei Andreas Malm finden.

Eine andere Vorstellung hat ihre Wurzeln in der radikalen Ökologie, in (Differenz-)feministischen Ansätzen und in der postmodernen Philosophie. Hier wird die Vorstellung, die Mensch und Natur als etwas wesenhaft unterschiedliches trennt bereits einer radikalen Kritik unterzogen. Die Dualität von Subjekt und Objekt, die das moderne Denken seit René Descartes beherrscht und die sich in den marxistischen Vorstellungen von Naturbeherrschung spiegelt, gilt hier nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems. Eine Überwindung der herrschaftsförmigen Naturbeherrschung wird hier zur Voraussetzung für eine emanzipative Überwindung ökologische Krisen.

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Alana, Anthroposophie und Anne Frank

Der Gründer des »dm«-Konzernes und Rudolf Steiners Antisemitismus

Von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 15. Juli 2023 – 25 Tammuz 5783 bei haGalil.com)

Vor 50 Jahren gründete der bekennende Anthroposoph Götz W. Werner den Drogeriekonzern »dm«. An Rudolf Steiners krudem, teils antisemitischen Weltbild scheint er sich nicht gestört zu haben.

Am 28. August 1973 eröffnete Götz W. Werner (1944–2022) den ersten »dm«-Laden in Karlsruhe. Einige Jahre später präsentierte »dm« mit der Kindertextilmarke »Alana« seine erste Eigenmarke. Heute ist »dm« Deutschlands umsatzstärkster Drogeriekonzern, in dessen deutschlandweit über 2.000 Filialen täglich bis zu zwei Millionen Menschen einkaufen.

Firmengründer Werner war ein überzeugter Anhänger der von Rudolf Steiner (1861–1925) begründeten Anthroposophie. In seiner 2013 erschienenen Autobiografie beschrieb er die Bedeutung der Anthroposophie für sein Unternehmertum: »Ich entdeckte die Anthroposophie als eine Fundgrube für meine Tagesproblematik, aber auch für meine mittel- und langfristigen Überlegungen. … Die Anthroposophie wurde für mich als Unternehmer das, was dem Architekt die Statik ist.«

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Fallstricke der Emanzipation

Autoritäres und Regressives in der Linken gestern und heute

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Freitag, 28. Juli 2023, 15 Uhr, Mellnau (Hessen)

Eine Veranstaltung von krisis Kritik der Warengesellschaft

im Rahmen von Krise. Kritik. Kapitalismus. Wertkritisches Sommercamp der Gruppe Krisis von Mo. 24. – So. 30. Juli 2023

Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Besser lassen sich Anspruch und Programm menschlicher Emanzipation nicht auf den Punkt bringen. Wenn der Begriff Links Sinn hat, dann diesen. Oft sehen linke Theorie und Praxis jedoch ganz anders aus. Was längst überwunden sein sollte, lebt auch in vielen linken und linksradikalen Strukturen und Denkweisen fort: Die Herrschaft von Zwangsgemeinschaften und von Menschen über andere Menschen.

Das kann sich in Männlichkeitskult und sexistischem Verhalten äußern, in der Vorliebe fürs Agitieren statt fürs Argumentieren oder in der Vorstellung, antifaschistische Akteur*innen seien stets im Recht, was auch immer sie tun. Aber auch im Glauben, man sei zur „Führung der Arbeiterklasse“ berufen. Der Griff in die Mottenkiste staatssozialistischer Parteidiktaturen und Sympathie für autoritäre Führergestalten wie Lenin liegen da oft nahe. Der Glaube, „die Klasse und das Volk“ brauche eigentlich nur die richtigen Führer, korreliert zudem mit zwei ebenso absurden wie folgenreichen Fehleinschätzungen: Nationalsozialismus und Antisemitismus seien die Folge rechter Verführungskünste und bürgerlich-rechtsstaatliche Verhältnisse seien letztlich ebenfalls „faschistisch“.

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»Es war der einzige Ort, wo wir noch tanzen durften«

Verordnete, geduldete und verbotene Kulturveranstaltungen: Die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Dalinger zeichnet ein Bild jüdischen Kunstschaffens im nationalsozialistischen Österreich

von Lara Wenzel

(zuerst erschienen in ND am 6. Juli 2023)

Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 war das öffentliche Leben für Jüdinnen und Juden vorbei. Auch die Möglichkeiten, an kulturellen Aktivitäten teilzuhaben, wurden für sie massiv eingeschränkt. Dafür etablierten die neuen Machthaber ein »NS-Repräsentationstheater« im Sinne ihrer Ideologie. In ihrem Sachbuch »›Man bewilligte uns sogar einige Spiele‹« rekonstruiert die Theaterhistorikerin Brigitte Dalinger das kulturelle Leben verfolgter Menschen in Wien und den österreichischen Konzentrationslagern zwischen Instrumentalisierung und Selbstbehauptung.

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Kafkaeske Identität(en)

Zum 140. Geburtstag Franz Kafkas, eines der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller, dessen lebenslanges Ringen um seine Jüdischkeit mit Blick auf unsere heutigen Identitätsdebatten von großer Aktualität ist.

von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 3. Juli 2023 – 14 Tammuz 5783 bei haGalil.com)

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als ältestes Kind des Kaufmannes Herrmann Kafka und seiner Frau Julie Kafka, geb. Löwy in der Prager Altstadt im Haus ›Zum Turm‹ (Ecke Maiselgasse/Karpfengasse) geboren. Seine Vorfahren mütterlicherseits beschrieb Kafka später in einem Tagebucheintrag wie folgt: »Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die 6 Jahre alt war als er starb. […] Ein noch gelehrterer Mann als der Großvater war der Urgroßvater der Mutter, bei Christen und Juden stand er in gleichem Ansehen, bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten.«i

Kafkas Bar-Mizwa, durch die dem männlichen Jugendlichen nach Vollendung des 13. Lebensjahres religiöse Mündigkeit zugesprochen wird, fand am 13. Juni 1896 statt. Da die jüdische Zeremonie in etwa der evangelischen Konfirmation entspricht, wurde Kafkas Bar-Mizwa von seinem zur Assimilierung neigenden Vater auf der Einladungskarte als »Confirmation«ii bezeichnet.

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Mit Plan oder im Chaos?

Vielleicht braucht es ein Fukushima für den Verkehr

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 640 am 5. Juli 2023)

Stephan Krull wünscht sich eine Halbierung der Menge an Autos in Deutschland. Denn eine Verkehrswende müsse viel grundlegender ansetzen als beim Austausch von Verbrennungsmotoren durch elektrische Antriebe, sagt der Ex-VW-Betriebsrat.

Er ist das erste Mal in Schwäbisch Hall, erzählt Stephan Krull, und eigentlich hätte er sich die Stadt gerne genauer angeschaut. Dafür blieb ihm keine Gelegenheit. Seinen Plan, schon gegen Mittag anzukommen, vereitelte die Deutsche Bahn. Mit vielen Stunden Verspätung und nach hochkomplizierten Umleitungen hat es der Gewerkschafter aus Hamburg gerade noch rechtzeitig zu seinem Vortrag geschafft. Der startet um 20 Uhr im Club Alpha 60 und die Ereignisse rund um Krulls Ankunft passen gut zu den Inhalten, die er vorträgt: „Solche Reisen zeigen, warum eine Verkehrswende nötig ist.“

Krull war 16 Jahre lang Betriebsrat bei VW und im Vorstand der IG-Metall-Geschäftsstelle Wolfsburg. Er ist also bestens vertraut mit den Mechanismen der Interessenvertretung für Beschäftigte, hat daran mitgewirkt, bei VW 6-Stunden-Schichten einzuführen und sagt über die Bedürfnisse der Arbeiterschaft, dass es im wesentlichen darum gehe, sich selbst und seinen Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Was laut Krull auch eine gewisse Offenheit für Umweltschutz bedeute, teils Einsicht in die Notwendigkeit einer ökologischen Transformation – aber eben auch und vielleicht sogar vor allem: Sichere Beschäftigung, die materiell keine Einbußen zum Ist-Zustand bedeute.

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Ist ein ökologischer Kapitalismus machbar?

Diskussion mit Julian Bierwirth

Sonntag, 9. Juli 2023, 18.00 Uhr, Göttingen

im Rahmen des Sommerfestes des Essbaren Waldgarten Grone

Das Sommerfest beginnt um 14.30 Uhr und endet um 21:00 Uhr. Es gibt Führungen durch den Garten, Programm für Kids & direkt im Anschluss an die Diskussion ein Lagerfeuer.

Im Angesicht der ökologischen Krisen bleibt nicht viel Zeit, um das Ruder herumzureißen und ein qualitativ neues Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Die Zeit scheint so knapp zu sein, dass ein Ausweg oftmals nur innerhalb der bereits Bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse denkbar scheint.

Wir wollen bei dieser Diskussionsveranstaltung genauer hinsehen: Wie ist es um die Möglichkeit eines ökologischen Kapitalismus bestellt? Kann uns eine öko-soziale Marktwirtschaft, wie sie Teile der aktuellen Bundesregierung befürworten, vor der Klimakatastrophe retten? Welche Rolle spielen möglicherweise die globalen Konkurrenz- und Handelsbeziehungen, in die unsere Ökonomie eingebunden ist? Ist eine Veränderung des Naturverhältnisses möglich, ohne zentrale gesellschaftliche Beziehungsformen zu transformieren?


Wie im Kapitalismus

Das Konzept der Arbeitszeitrechnung stellt keine Alternative zum Kapitalismus dar

In einer nach dem Konzept der Arbeitszeitrechnung organisierten Gesellschaft bliebe der Austausch von Arbeitsleistungen das zentrale Prinzip der gesellschaftlichen Vermittlung. Einen Ausweg aus den Zwängen der warenproduzierenden Gesellschaft böte das nicht.

von Julian Bierwirth

(zuerst erschienen in Jungle World vom 22.6.2023)

Mit der verstärkten Hinwendung zur Ökonomiekritik in linken Debatten rückt auch die Frage, wie eine postkapitalistische Gesellschaft organisiert sein könnte, wieder in den Mittelpunkt. Felix Klopotek, Christian Hofmann und Philip Broistedt haben das Konzept einer Arbeitszeitrechnung (AZR) ins Gespräch gebracht, das die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) vorgelegt hatte. Das Modell, das 1930 in der Schrift »Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung« dargestellt wurde, erweist sich jedoch als kaum geeignet, um vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Situation und heutiger linker Kämpfe eine emanzipatorische Perspektive zu skizzieren.

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CSD in Freiburg: Antifa als Publikumsmagnet?

Trotz eines Boykotts durch drei Schwulen- und Lesbenverbände wurde der CSD am vergangenen Wochenende zum größten, den es je in Freiburg gab

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 639 am 28. Juni 2023)

Das vermummte Schwarzwaldmädel war zu viel: Nachdem sich der Freiburger CSD zur Antifa bekannte, boykottierten ihn drei Schwulen- und Lesbenverbände. Dennoch wurde der CSD am vergangenen Samstag der größte, den Freiburg je erlebt hat.

Screenshot @csdfreiburg

Die Reaktion kam spät, war aber heftig: Knapp zwei Monate nachdem das Logo für den diesjährigen Christopher-Street-Day (CSD) in Freiburg publik geworden war, zeigten sich der Lesben- und Schwulenverband Baden-Württemberg (LSVD BW) und die Interessengemeinschaft CSD Stuttgart „entsetzt“. Am 21. Juni begründeten beide Organisationen in einer gemeinsamen Pressemitteilung ihren Boykott der Demonstration. Denn beworben wurde die Veranstaltung unter anderem mit einem Schwarzwaldmädel, das neben einem regenbogenbunten Bollenhut auch eine Sturmmaske trägt. Daneben zu sehen: ein leicht abgewandeltes Logo der Antifaschistischen Aktion. „Wir können als familienorientierter Verband an keiner Veranstaltung teilnehmen, die offen für Linksradikalismus wirbt oder im direkten Zusammenhang mit gewaltbereiten Gruppierungen steht“, erklärte Kersin Rudat aus dem Vorstand des LSVD BW. Beide Zusammenschlüsse kritisierten, „dass solch eine Provokation auch krasse Gegenreaktionen erzeugen und rechtsextreme Gruppierungen erst recht locken könnte“. Und Detlef Raasch vom CSD Stuttgart betonte: „Wir lehnen jede Art von Radikalismus strikt ab.“ Bemerkenswert sind diese Aussagen vor dem Hintergrund der Historie des Christopher-Street-Days.

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Technologieoffenheit als Treppenwitz. Der drohende Einbruch deutscher Autoexporte

Das selbstfahrende Auto dürfte noch lange auf sich warten lassen. Außerdem haben deutsche Autobauer den Umstieg auf Elektroantriebe verschlafen

von Minh Schredle

(Zuerst gekürzt und unter einem anderen Titel in der Jungle World 2023/23 vom 8. Juni 2023 erschienen.)

Wie eine Straßenbahn ohne Gleise oder ein Bus, den man sich mit niemandem teilen muss, so soll automatisiertes Fahren funktionieren. „Schon seit Jahren sind die Ingenieure fast aller Autohersteller mit Systemen zum automatisierten und hochautomatisierten Fahren unterwegs“, informierte jüngst der ADAC, der enorme Potenziale in dieser Technologie sieht. Einschränkungen ergeben sich allerdings bei der Umsetzung, denn „der ambitionierte Zeitplan“ zur Markteinführung habe sich „immer wieder verschoben“. An knausrigen Geldgebern liegt es eher nicht: Nach Angaben von McKinsey haben Fahrzeugproduzenten und Risikokapitalgeber zwischen 2010 und 2020 mehr als 100 Milliarden Dollar in selbstfahrende Systeme investiert. Doch weltweit bleiben die Erfolge hinter den Erwartungen zurück. In Deutschland scheint der Optimismus ohnehin überschaubar. Nur „21 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger glauben, dass klassische deutsche Hersteller den Wettbewerb um das autonome Fahren für sich entscheiden werden“, ergab eine repräsentative Befragung im Auftrag des Marktforschungsunternehmens Bitkom Ende 2022. Hingegen waren 43 Prozent überzeugt, „dass neue Automobilhersteller wie Tesla letztlich an der Spitze stehen“. Allerdings läuft es auch beim vermeintlichen Branchenprimus alles andere als rund.

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Arbeit, Wachstumszwang und Autoritarismus

Zum Charakter der Krise und antifaschistischen Perspektiven

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Donnerstag, 6. Juli 2023, 15.30 Uhr, Nordrhein-Westfalen

Eine Veranstaltung von Antifa.NRW im Rahmen von Sommer, Sonne, Antifa! Festival 2023

Die Erde erwärmt sich unaufhörlich, die Ozeane werden vermüllt. Hunger und Armut wachsen, selbst in den reicheren Weltregionen. Eine Zoonose und Pandemie folgt auf die nächste. Kriege und Kriegsgefahr werden immer bedrohlicher. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht.

Es mangelt nicht an Konferenzen und Beschlüssen „zur Nachhaltigkeit“. Doch eine Wirtschaftsweise, der unendliches Wachstum, maximaler Profit und steigende Aktienkurse wichtiger sind als das Leben künftiger Generationen, schafft Probleme, die sie selbst nicht lösen, sondern nur weiter vertiefen kann.

Weltweit kämpfen viele Menschen gegen die Folgen an. Die Einsicht, dass Umweltkrise, soziales Elend, rassistische und sexistische Unterdrückung miteinander zusammenhängen, verbreitet sich. Immer weniger Menschen finden sich mit Diskriminierung ab, immer mehr fordern das Recht ein, ohne Angst verschieden sein zu können. Sie verlangen, „dass es nicht mehr so weitergeht“.

Aber viele bestehen auch explizit darauf, „dass es so weitergeht“. Je tiefer die Krise, desto mehr klammern sie sich an das, was keine Perspektive mehr hat. Anstatt darüber nachzudenken, was sie eigentlich denken, behaupten sie lieber, sie dürften „nicht mehr sagen, was sie denken“. Rassistische, sexistische, antisemitische und nationalistische Reaktionen verschärfen die Krise weiter. Verschwörungsphantasien verbreiten sich. Hass und Hetze gegen Klimaaktivist*innen und „Woke“ wirken bis in die „Mitte der Gesellschaft“. Ein neu-alter Autoritarismus wächst heran. In ihm gärt rohe Gewalt.

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Gesellschaftskritik und Klassentheorie

Zur Notwendigkeit, unsere Vorstellung von sozialen Kämpfen zu reformulieren

von Julian Bierwirth

(zuerst erschienen bei Disposable Times)

Der Text basiert auf einem Input, das der Autor bei der Zweiten Marxistischen Arbeitswoche am 29. Mai in Frankfurt am Main gehalten hat.

Die Kategorie „Klasse“ hat in den Diskussionen um die Ausrichtung einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik und die Stoßrichtung sozialer Kämpfe in den vergangenen Jahren erneut eine große Bedeutung erlangt. Das Revival der Klassenpolitik wird dabei als große Chance für eine präzisere Bestimmung der gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen und eine Radikalisierung sozialer Kämpfe verstanden. Für beides scheint der Begriff bei genauerer Betrachtung jedoch wenig geeignet. Es braucht ein anderes Paradigma, um die notwendigen Auseinandersetzungen im Kapitalozän zu führen.

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Hat hier gerade jemand Spaltung gesagt?

Eine Reise durch die Theoriegeschichte der Linken

Input und Diskussion mit Julian Bierwirth

Mittwoch, 14. Juni 2023, 19.00 Uhr, Braunschweig

Goslarsche Straße 20a, 38118 Braunschweig

Eine Veranstaltung der Sozialistischen Jugend Die Falken Braunschweig

In den letzten Jahren wird wieder vermehrt über linke Theorie diskutiert. Im Zentrum vieler Auseinandersetzungen steht der Marxismus und seine Wirkungsgeschichte. Und tatsächlich kann der Traditionelle Marxismus als eine Art Urbild emanzipativer Gesellschaftstheorie gelten. Hier wurde das erste mal eine konsistente und umfassende Befreiungstheorie vorgelegt.

Der Referent wird die Grundüberlegungen des Traditionellen Marxismus darstellen und ihre weltgeschichtliche Wirkung nachzeichnen. Im Anschluss daran werden wir uns den gängigen Kritiken aus anderen linken Strömungen zuwenden: aus der Kritischen Theorie, dem Poststrukturalismus, dem Operaismus und der Wertkritik. Diese Strömungen haben – bei aller Unterschiedlichkeit – die Gemeinsamkeit, dass sie aus einer Kritik am Traditionellen Marxismus entstanden sind. Aus der Kritik am Traditionsmarxismus lassen sich dann in einem dritten Schritt die jeweiligen Zugänge unterschiedlicher Linker Strömungen zu Theorie und Praxis sowie aktuelle linke Debatten nachzeichnen.

Gesellschaftstheoretisches Vorwissen ist nicht notwendig.

Autoritäre Versuchungen in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Moderation: Martin Gohlke

Dienstag, 11. Juli 2023, 15.00 bis 16.45 Uhr, Online

Eine Veranstaltung von Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Aurich

Zugang über Zoom Meeting-ID: 829 2788 5661; Kenncode: X0bdtA

Klima, Krieg, Inflation, Sorge um die wirtschaftliche Existenz und sozialen Abstieg… Vieles beunruhigt. Einfache Antworten gibt es nicht. Aber manchen erscheinen sie verlockend. Autoritäre Politikkonzepte werden attraktiver. Freiheit wird mit Ellenbogenegoismus verwechselt. Die Suche nach „den Schuldigen“ vermischt sich mit der Sehnsucht nach dem „starken Mann“. Krisenzeiten waren selten gut für die Demokratie. Wie können wir die Gesellschaft angesichts großer ökologischer und sozialer Herausforderungen krisenresistenter gestalten und auf einen guten Weg kommen?

System Change not Climate Change?

Warum wer von Kapitalismus nicht reden will, auch von Nachhaltigkeit schweigen sollte

Workshop mit Franziska Sander

im Rahmen des AUFSTAND 2023 der NAJU Baden-Württemberg

Sonntag, 11. Juni 2023, 10 Uhr, Waldenbuch

Waldjugendzeltplatz Jungviehweide in 71111 Waldenbuch

Klimagerechtigkeit, System Change not climate change, dies das – von all den Begriffen kann einem schon mal der Kopf brummen. Wir beschäftigen uns im Workshop mit der Frage, was Klimagerechtigkeit eigentlich genau heißt, mit Grundzügen der Kapitalismuskritik und damit, warum es sich lohnt, für „System Change not climate change“ zu kämpfen.

Anreisebeschreibung

Rache statt Verbrüderungskitsch

Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur

Rezension zu Max Czollek: „Versöhnungstheater“

von Lara Wenzel

(zuerst erschienen in TdZ am 27.4.2023)

Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor einem Jahr brach in Deutschland eine „Zeitenwende“ an, wie Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete. „[N]ach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“, betonte auch SPD-Bundesvorsitzender Lars Klingbeil. Jenseits der Frage, ob Waffenlieferungen in die Ukraine notwendig sind, bedient sich ihre Begründung einer „Schlussstrich-Rhetorik“. Nachdem Deutschland die letzten Jahrzehnte die Füße stillhielt und die Überlebenden des zweiten Weltkriegs und der Shoa schwanden, denkt man sich nun, man könnte ja wieder… Mit der Zeitenwende-Rede von Scholz sei eine neue Stufe der deutschen Erinnerungskultur erreicht, meint Max Czollek. Das „Versöhnungstheater“ bestimmt nun das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Rolle, die die weiße, christliche Mehrheitsgesellschaft Juden und Jüdinnen darin zu weist. Debora Antmann prägte für dieses oft aufgerufene „Wir“ das Adjektiv wc-deutsch, [weiß-christlich-deutsch].

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Das Schutzbedürfnis der Machtkritik

Radio Dreyeckland: Staatsanwaltschaft blamiert sich vor Gericht

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 634 am 24. Mai 2023)

Weil er in einem Artikel die Archivseite einer verbotenen Vereinigung verlinkte, hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe einen Redakteur von „Radio Dreyeckland“ angeklagt. Das Landgericht Karlsruhe nutzte die Gelegenheit für Nachhilfe in den Fächern Grundrechte und Denklogik.

Der freie Sender „Radio Dreyeckland“ (RDL) kann seit der Gründung 1977 auf ein paar seltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zurückblicken, auch in der jungen Vergangenheit. Als ein freier Mitarbeiter, der zu diesem Zeitpunkt in der Nähe der französischen Stadt Dijon lebte, 2019 über den G7-Gipfel in Biarritz berichten wollte, hat ihn die Polizei eingesperrt und nach Kehl abgeschoben – weil sie ihn auf Basis eines falschen Hinweises der deutschen Kolleg:innen für einen „Gefährder“ hielten (später bekam der Betroffene wegen dieser rechtswidrigen Behandlung eine Entschädigung zugesprochen). Nur wenige Monate später, im September 2020, war der RDL-Redakteur und Fotojournalist Julian Rzepa auf einer „Querdenken“-Kundgebung, um Bilder zu machen. Dabei schlug eine Demonstrantin gegen seine Kamera und beschädigte das Objektiv. Rzepa zeigte das an, doch das Freiburger Amtsgericht stellte das Verfahren aus „Mangel an öffentlichem Interesse“ ein und der Journalist blieb auf den Anwaltskosten und einem kaputten Objektiv sitzen.

Der neuste Fall in dieser unrühmlichen Serie ist allerdings noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Weiterlesen