Flüchtlingsprojekt „Refugio“ – Der Hechinger Weg

von Lucius Teidelbaum

Asylpolitik muss nicht populistisch sein: In Hechingen am Westrand der Schwäbischen Alb setzen sich ein CDU-Landrat und ein CDU-Bürgermeister für ein Vorzeigeprojekt ein, das Geflüchtete integriert und eine verödete Innenstadt belebt.

In Hechingen liegt der Bahnhof am Stadtrand. Zu Fuß dauert es etwa 20 Minuten bis ins höher gelegene Zentrum der 20.000-Seelen-Stadt, vorbei an geschlossenen Geschäften und Gastwirtschaften. An vielen Laden-Fenstern hängen ausgebleichte Rabatt-Versprechen, um Kund:innen herein zu locken, doch die Regale sind oft leer. Nach dem notwendigen Fußmarsch kommt man schließlich in der Oberstadt an. Von der Kirche St. Jakobus geht es zum Obertorplatz, an den das ehemalige Hotel Klaiber anliegt. Das Interieur ist dunkel gehalten, was sich auf den Essens-Saal auswirkt, obwohl eine breite Glasfront den Blick nach draußen ermöglicht. Zu sehen ist ein Spielplatz mit Hindernispfad.

Aus dem alten Hotel ist inzwischen ein Ort namens „Refugio“ geworden. Ein Jahr lang standen die Räumlichkeiten leer. Eine hier geplante Tiefgarage kam nicht zustande. Mit Unterstützung des Landrats Günther-Martin Pauli und des Hechinger Bürgermeisters Philipp Hahn, beide CDU, konnte stattdessen ein bemerkenswertes Projekt entstehen.

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Gekränkte Randfiguren

Beobachtungen aus dem libertären Paralleluniversum in der Stuttgarter Liederhalle

von Minh Schredle

Treffen sich ein Whisky-Experte, ein Untergangsprophet und eine abgesägte Parteichefin, heißt die Pointe: Bürgergipfel. Beobachtungen aus dem libertären Paralleluniversum in der Stuttgarter Liederhalle.

Ein Mann schnaubt aufgebracht. „Wer hat denn diesen Raum für den Krall organisiert?“, fragt er fassungslos. Er hätte gerne den als Stargast anmoderierten Goldverkäufer Markus Krall gesehen, aber in dem Zimmer in der Stuttgarter Liederhalle, das die Veranstalter „Bitcoin Hotel“ genannt haben, sind die 40 Stühle schon eine halbe Stunde, bevor es losgeht, besetzt. Ein paar Interessierte haben sogar auf dem Boden Platz genommen, aber jetzt ist das Boot endgültig voll. Die Spannung steigt, doch der Stargast lässt auf sich warten. Also startet die Podiumsdiskussion schon mal mit Moderator Marc Guilliard und dem Whisky tastenden Youtuber Horst Lüning. Guilliard ist manchmal deprimiert, wenn er die Nachrichten guckt. Lüning hat einen Tipp: „Tagesschau“ abschalten. „Was geht das mich, meine Familie oder mein Umfeld an?“ Um die ganze Welt kann er sich ja eh nicht kümmern.

Lüning vertritt eine Theorie der gesellschaftlichen Zyklen, die sich im Wesentlichen so zusammenfassen lässt: Harte Zeiten erzeugen harte Kerle. Harte Kerle erzeugen gute Zeiten. Gute Zeiten erzeugen schwache Memmen. Schwache Memmen erzeugen harte Zeiten. Das sei laut Lüning „wie ein Naturgesetz“, jetzt gerade stehe wieder ein großer Kollaps bevor. Da hilft auch kein US-Präsident Trump, von dem sich Lüning „viele gute Sachen“ verspricht. „Aber nicht einmal er wird den Untergang aufhalten können.“ Gerade will Lüning erklären, wie die Gesamtmisere mit der vor gut 50 Jahren aufgehobenen Goldbindung des Dollars zusammenhängt – da taucht endlich Markus Krall auf. Das Publikum wirkt elektrisiert.

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Offen für alles

Beim „Bürgergipfel” in Stuttgart finden sich sowohl rechtspopulistische als auch Querfronttendenzen

Zusammen mit „produktiven Bürgern“ will Unternehmer Oliver Gorus Aufbruchstimmung erzeugen und Deutschland retten. Zu seinem Bürgergipfel in der Stuttgarter Liederhalle kommen nicht nur Rechtspopulist:innen. Es gibt auch Querfronttendenzen.

von Minh Schredle

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel der Kontext:Wochenzeitung 699 vom 21.08.2024. Für Emafrie und Krisis wurde er überarbeitet und erweitert.

Letzten Winter hat Oliver Gorus eine Beobachtung gemacht: „Eigentlich vernünftige Leute sahen nur noch schwarz“, schreibt er, und fasst das, was er so gehört hat, wie folgt zusammen: „Das Land sei nicht mehr zu retten. Die Politiker seien ja doch nur Marionetten (…). In Wahrheit würden finstere Finanzoligarchen regieren, die den Untergang der Nationalstaaten in Mitteleuropa beschlossen hätten. Der totalitäre europäische Superstaat mit totaler Kontrolle und digitalem Zentralbankgeld komme sowieso. (…) Die Linken würden sowieso keine freien und ungefälschten Wahlen mehr stattfinden lassen. Wir würden in einer Demokratiesimulation leben (…). Und in ein paar Jahrzehnten würden hier ohnehin nur noch Immigranten leben, die europäischen Völker seien dem Untergang geweiht. Unausweichlich.“

Was Gorus an diesen Analysen stört, ist der Fatalismus. Er stimmt zu, dass die deutsche Wirtschaft auf Talfahrt sei, „unsere Länder“ sich auf einem „schlüpfrigen Pfad abwärts“ befänden, „wir sind infiziert vom neomarxistischen Gedankenvirus“. Karrierepolitiker hätten „eine neue arrogante Fürstenklasse gebildet“, die Parteien seien „das Problem, nicht die Lösung“ und die „Staatsfinanzen entwickeln sich wie ein Tumor“. Aber die Hoffnung aufgeben, will er deshalb noch nicht. Und weil er „MACHEN“ schon als Kind krasser fand als „wollen“, hat Gorus den „Bürgergipfel 2024“ initiiert. So will er am 7. September mit dem verbliebenen „Rest der produktiven Bürger“ in der Stuttgarter Liederhalle Aufbruchstimmung und Zuversicht erzeugen. Er rechnet mit mindestens 1.000 Gästen.

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Probleme der Palästina-Solidarität

Anmerkungen zu einer Kritik an einem Vortrag auf dem System Change Camp

von Julian Bierwirth

Der Flyer (der hier eingesehen werden kann) beginnt mit einer falschen Beschreibung der Themenstellung: Es wird behauptet, es wäre ein Vortrag über den “Nah-Ost-Konflikt” (Zitat aus dem Flyer) gewesen. Das ist falsch. Es ging um die Rolle des Kapitalismus für das Verständnis der Klimakrise und des Antisemitismus.

In der Diskussion nach dem Vortrag hatte ein nicht unerheblicher Teil des Publikums wenig Interesse an einer Diskussion zur Kritik des Antisemitismus, Kapitalismus oder der Klimakrise, sondern wollte einen Weg finden, auch weiterhin “Israel kritisieren zu dürfen”. Mehrfach wurde dieser Wunsch geäußert und so eine Diskussion nicht zu Fragen der Bedeutung des Antisemitismus, sondern zum “Nah-Ost-Konflikt” eingefordert. 

In den letzten Monaten ist häufig der Reflex zu beobachten, dass auf die Thematisierung von Antisemitismus der Hinweis auf aktuelle politische Entwicklungen in Israel folgt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass dies geschieht, um sich mit einer Kritik von Antisemitismus nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Es wäre eine eigene Reflexion wert, den damit zusammenhängenden sozialtheoretischen und sozialpsychologischen Mechanismen nachzugehen.

Ich werde im Folgenden zunächst etwas ausführlicher auf ein grundlegendes Manko vieler sog. “antiimperialistischer bzw. “antizionistischer” Analysen eingehen, die sich auch in dem Kritik-Papier widerspiegeln. Im Anschluss werde ich kurz die inhaltlichen Vorwürfe kommentieren. Mir ist bewusst, dass diese kurze Darstellung eine notwendige und umfassende Kritik dieser nicht nur verkürzten, sondern inhaltlich falschen Perspektiven linker Welterklärung nicht ersetzen kann.

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Verzerrtes Interesse an rechtem Terror. Der Anschlag in Halle 2019

von Nele Fuchs

erschienen am 4.8.2024 bei krisis – Kritik der Warengesellschaft

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Zusammenfassung

Die Reaktionen der sogenannten Mitte der deutschen Gesellschaft auf den rechtsterroristischen Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 offenbaren Motive, die auch in der Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen zu finden sind. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen rechtem Terror und Kontinuitäten nationalsozialistischer Ideologien führt dies jedoch zu einem erinnernden Vergessen. Der Attentäter und seine rechtsextreme Ideologie werden aus der Gesellschaft externalisiert, wodurch sich die Mitte als diskriminierungsfrei darstellen kann.

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Audio: So nimm denn meine Hände und führe mich

Zur Konjunktur von Irrationalismus und Religiosität in Zeiten von Krise und Autoritarismus

Vortrag von Lothar Galow-Bergemann

gehalten am 4. April 2024

Die tiefe gesellschaftliche Krise bringt nicht nur Unsicherheit und Zukunftsangst mit sich, sondern auch völlig irrationale Denk- und Handlungsweisen. Wenn gegen Gesundheitsschutz demonstriert, der Klimawandel abgestritten oder nationale Abschottung gefordert wird, stehen weder Wissen noch Kritikfähigkeit Pate. Man will lieber, wie es in jenem Kirchenlied heißt, „die Augen schließen und glauben blind“. Vorzugsweise an „mächtige Kreise“, die einem Böses wollen.

Damit einher geht die Sehnsucht nach „guten Mächten“, zu denen sich aufblicken lässt. Starke Autoritäten, die Halt und Orientierung versprechen, haben Konjunktur. Ein Heimspiel für Religionen. Nicht zufällig erleben sie im Zeichen der weltweiten autoritären Welle einen Aufschwung.

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Islamismus ist keine Nebensächlichkeit, Islamismus tötet!

Am vergangenen Freitag hat ein islamistischer Angreifer an einem Stand von „Pax Europa“ auf dem Mannheimer Marktplatz sechs Menschen verletzt, von denen einer inzwischen gestorben ist.

Es ist offensichtlich, dass „Pax Europa“ seinem vorgeblichen Anspruch, den politischen Islam kritisieren und nicht gegen Muslime hetzen zu wollen, nicht gerecht wird. Was diese Leute vertreten, ist rassistisch und das Vorführen von Einzelpersonen bei ihren Veranstaltungen auf der Straße weit unter der Gürtellinie. Daran kann es keinen Zweifel geben und es ist notwendig dieser Hetze entschieden entgegen zu treten.

Doch bei dem Mordanschlag von Mannheim waren „Pax Europa“ nicht die Täter. Und ihnen gegenüber stand auch kein kritisch-progressiver Gegenprotest. Der Täter – der inzwischen leider zu einem Mörder geworden ist – war ein islamistischer Terrorist, der sich in seiner Ideologie gekränkt sah und mit einem riesigen Messer auf unbewaffnete Zivilist*innen sowie Polizist*innen einstach. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt und ein junger Polizist brutal getötet. Dafür kann es keine Relativierung geben, egal wer die Opfer waren!

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CDU und AfD – finde den Unterschied

Kommunalwahl in Stuttgart

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 687 am 29. Mai 2024)

In den nächsten Jahren verliert Stuttgart voraussichtlich zwei Drittel seiner Unterbringungsplätze für Geflüchtete. Fast alle im Gemeinderat bekennen sich zur gesetzlichen Verpflichtung, zu helfen. Die CDU liegt allerdings auf einer Linie mit der AfD.

Es sind Worte wie aus einer anderen Welt: Der Umgang mit Geflüchteten tauge in Stuttgart nicht als Wahlkampfthema, berichtete die „Stuttgarter Zeitung“ vor einem Jahrzehnt, als Kommunalwahlen anstanden. Das städtische Handeln sei bei diesem Thema „von einem breiten Konsens der Ratsfraktionen getragen, auch als es zuletzt um den Neubau von Unterkünften für die wachsende Zahl von Flüchtlingen ging“, hieß es damals. Und Autor Mathias Bury bilanzierte: „Diese Einmütigkeit ist ein wichtiger Grund für die Erfolge auf diesem Politikfeld.“

Tatsächlich gab es im Rathaus einmal eine parteien- und ideologieübergreifende Zusammenarbeit, wenn es darum ging, schutzsuchenden Menschen eine Zuflucht zu bieten. Doch der breite Konsens ist inzwischen aufgekündigt. Weiterlesen

Ein bisschen Spaß muss sein

Fest gegen rechts

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 685 am 15. Mai 2024)

Politisches Engagement muss Freude machen, meint das Stuttgarter „Netzwerk gegen rechts“. Am Samstag gibt’s daher ein Fest mit analytischem Blick auf gesellschaftliche Desaster und mit Humor.

Der ordnungsliebende Immanuel Kant definiert in seiner „Anthropologie“ einen Dreiklang für den fruchtbaren Gedankenaustausch in Gesellschaft, und zwar in genau dieser Reihenfolge: erstens Erzählen, zweitens Räsonieren und drittens Scherzen. Nachdem alle über die Neuigkeiten des Tages im Bilde sind, folgt der kultivierte Streit um die Beurteilung der Ereignisse. „Weil aber das Vernünfteln immer eine Art von Arbeit und Kraftanstrengung ist“ und das auf Dauer beschwerlich werde, „so fällt die Unterredung natürlicherweise auf das bloße Spiel des Witzes“.

Obwohl dieser Leitfaden – Kant selbst spricht von „Gesetzen der verfeinerten Menschheit“ – schon über 200 Jahre alt ist, kommt die vergnügliche Komponente bei politischen Versammlungen oftmals zu kurz. Sie enden allzu häufig mit der bierernsten Erörterung über gesellschaftliche Missstände und lassen ihr Publikum spaßbefreit zurück. Wie viele Adorno-Lesezirkel verliefen ganz und gar ohne Zwerchfellerschütterung? Und unter uns: Wann haben Sie zuletzt auf einer Demonstration herzhaft gelacht?

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Polizeigewalt: Der Schlächter von Hamburg

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 680 am 10. April 2024)

Er freut sich darauf, im Einsatz linke Zecken zu verprügeln und gilt polizeiintern als Menschenfeind: Kontext liegen Chatprotokolle vor, in denen der Beamte Rainer Jäger (Name geändert) mit Gewalttaten prahlt. Konsequenzen hatte das bislang nicht, aber das könnte sich bald ändern.

Am 28. Juli 2017 bekommt Polizeiobermeister Rainer Jäger, der in Wahrheit anders heißt, eine Nachricht: Wie war es denn in Hamburg?, will jemand wissen. Jäger, damals 28 Jahre alt, war von Baden-Württemberg aus im Einsatz, um den G20-Gipfel 2017 abzusichern. Doch nach Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen schreibt er: „Schlimm. Diese ganze Gewalt und Zerstörung.“ Kurz darauf folgt die Aufklärung: „Das war ein Scherz. Es war Mega gut.“ Er habe „ordentlich ausgeteilt“ und „hoffe nur das ich keine Post aus hh bekomme“. Die Post kam – doch Jäger hat sich zu Unrecht Sorgen gemacht.

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Schaufenstersadismus

Die CDU fordert noch härtere Sanktionen für Erwerbslose, die »zumutbare Arbeit« verweigern

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Jungle World)

Die CDU droht mit einer »Agenda 2030« und will noch härtere Sanktionen für Bürgergeld-Beziehende. Dabei kann denen das Existenzminimum bereits vollständig gestrichen werden.

Im November 2022 war die Union noch stolz auf ihre Verhandlungsleistung. Ein Systemwechsel sei bei der Hartz-IV-Reform verhindert worden, informierte die CDU in einer Pressemitteilung: »Sanktionen bleiben, ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt es nicht.« Beim politischen Streit um das Bürgergeld sei ein »guter Kompromiss« mit der Bundesregierung erreicht worden, dem die Union im Bundesrat schließlich zustimmte.

6 Monate später scheint die CDU ihren Erfolg vergessen zu haben. Kürzlich teilte sie in einer Pressemitteilung mit, dass sie „das Bürgergeld in der jetzigen Form abschaffen“ wolle. „Wenn jemand eine zumutbare, angemessene Arbeit ablehnt, die ihm angeboten wurde, passiert nichts. Das kann nicht sein.“ Für Generalsekretär Carsten Linnemann sei es aber „gesunder Menschenverstand“, dass „Menschen, die arbeiten können, auch arbeiten gehen müssen“. Für die CDU steht fest: „Wer zumutbare Arbeit mehr als drei Monate verweigert, gilt nicht als bedürftig“ und soll deshalb über die Zahlungen für Miete und Nebenkosten hinaus keinerlei Unterstützung vom Staat bekommen. Das ist der Partei so wichtig, dass sie eine Reform des Bürgergelds sogar zur Bedingung für eine Koalition auf Bundesebene erklärt.

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So nimm denn meine Hände und führe mich

Zur Konjunktur von Irrationalismus und Religiosität in Zeiten von Krise und Autoritarismus

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Donnerstag, 4. April 2024, 19.00 Uhr, Sulzbach-Rosenberg

Buchhandlung Volkert, Rosenberger Straße 12, 92237 Sulzbach-Rosenberg

Eine Veranstaltung von Punk e.V.

  • der Vortrag ist mittlerweile HIER zu hören

Die tiefe gesellschaftliche Krise bringt nicht nur Unsicherheit und Zukunftsangst mit sich, sondern auch völlig irrationale Denk- und Handlungsweisen. Wenn gegen Gesundheitsschutz demonstriert, der Klimawandel abgestritten oder nationale Abschottung gefordert wird, stehen weder Wissen noch Kritikfähigkeit Pate. Man will lieber, wie es in jenem Kirchenlied heißt, „die Augen schließen und glauben blind“. Vorzugsweise an „mächtige Kreise“, die einem Böses wollen.

Damit einher geht die Sehnsucht nach „guten Mächten“, zu denen sich aufblicken lässt. Starke Autoritäten, die Halt und Orientierung versprechen, haben Konjunktur. Ein Heimspiel für Religionen. Nicht zufällig erleben sie im Zeichen der weltweiten autoritären Welle einen Aufschwung.

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Audio: Was ist Antisemitismus? Was ist Israel?

Vortrag von Lothar Galow-Bergemann

gehalten am 19. Februar 2024 in Karlsruhe

Cafe Noir, Schauenburgstr. 5, 76135 Karlsruhe

Eine Veranstaltung von Solidarische Perspektiven

(Fast) alle sind gegen Antisemitismus – und wissen trotzdem nicht, was er ist. Viele Linke glauben, sie seien dagegen immun, weil sie Antirassist*innen sind. Doch Antisemitismus ist etwas völlig anderes als Rassismus. Er ist eine Verschwörungsideologie mit antikapitalistischem Anspruch, die nichts vom Kapitalismus kapiert hat. Linke, die von „der profitgierigen Kapitalistenklasse“ reden und Klimaaktive, die glauben, „die Reichen“ seien an der Klimakrise schuld, sind deswegen keine Antisemit*innen – aber anfällig für antisemitische Denkmuster. Auch auf Coronademos wurde von Milliardären phantasiert, die „schuld sind“.

Der moderne Antisemitismus wurzelt im zwei Jahrtausende alten christlichen Antijudaismus, der die Juden als Inkarnation des Bösen schlechthin imaginiert. Von Europa aus verbreitete er sich weltweit. Seinen bisherigen Höhepunkt fand er in der Shoah. Die Nationalsozialisten setzten die eingebildeten „Gierigen und Mächtigen, die die Welt versklaven“ mit „den Juden“ gleich.

Seit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 weiß jede Jüdin, gleich wo sie lebt: Kommt es wieder ganz schlimm, gibt es immer noch den jüdischen Staat. Das bestialische Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 zielte vorsätzlich auf dieses Schutzversprechen. Die Dimension dieser tiefen Zäsur für die israelische Gesellschaft und alle Jüdinnen und Juden kann nur ermessen, wer sich über den antisemitischen Vernichtungswahn der Hamas, der Hisbollah, des iranischen Regimes und seiner Verbündeten im Klaren ist. Israel verstehen heißt seine Gegner verstehen. Beides geht nur, wenn man Antisemitismus verstanden hat. Wer hingegen von Israel als „Kolonialprojekt“ oder „Apartheidstaat“ spricht, hat nichts verstanden.

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. für Jungle World und Emanzipation und Frieden

Sticker: Deutschland entnazifizieren, AfD-Verbot jetzt!

Alle unsere Sticker sind unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0 International Public License frei verfügbar, um sie z.B. selbst in den Druck zu geben. Siehe hier.

Bestellungen per Mail an bestellungen[at]emanzipationundfrieden.de

Faschisten planen millionenfache Deportationen – ein „Welt“-Autor möchte sie durch Regierungsbeteiligung „entzaubern“

von Minh Schredle

Nachdem „Correctiv“ über ein Geheimtreffen von Rechtsextremisten berichtete, auf dem unter Beteiligung der AfD Pläne geschmiedet wurden, Millionen von Menschen aus der Bundesrepublik nach Afrika zu deportieren, ist auch eine positive Entwicklung zu beobachten: Zehntausende waren am vergangenen Wochenende auf den Straßen, um der drohenden Barbarei etwas entgegen zu setzen.

Doch die Lage bleibt mehr als Ernst. Und nur wenige Tage nach der Offenlegung dieser neonazistischen Absichten, rät ein Autor in der „Welt“, die AfD durch eine Regierungsbeteiligung zu „entzaubern“. Die CDU solle „in den sauren Apfel beißen“, empfiehlt Alan Posener in seinem völlig grotesken Schmierenstück, und in den Ost-Ländern koalieren, „während man auf Bundesebene der Staatsräson gehorcht und der Versuchung widersteht, mit den Radikalen zu regieren“. Als Stichwortgeber für seine Argumentation dient ihm Karl Marx, demzufolge sich die Geschichte wiederhole: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

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Video: Der blinde Fleck. Warum die traditionelle und postkoloniale Linke Antisemitismus so schwer erkennt

Vortrag von Julian Bierwirth

gehalten am 11. Dezember 2023 bei krisis-Kritik der Warengesellschaft

Nach dem Massaker vom 7. Oktober ging kein Aufschrei durch die globale Linke – stattdessen haben viele das Massaker als revolutionären Widerstandsakt gefeiert.

Die Diskrepanz zwischen dem Zivilisationsbruch der Hamas und dieser Reaktion könnte kaum größer sein. Gesellschaftstheoretisch hat sie ihre Ursache in einer stark verkürzten Perspektive auf die sozialen Zusammenhänge im globalisierten Kapitalismus. Sowohl links-traditionelle als auch postmoderne Spielarten der Gesellschaftskritik nehmen den modernen Kapitalismus in erster Linie als Gegeneinander von Herrschenden und Beherrschten war. Diese Perspektive erlaubt es aber weder, die globalen Verhältnisse noch die Spezifik des modernen Antisemitismus kritisch zu verstehen.

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Der blinde Fleck. Warum es der traditionellen und der postkolonialen Linken so schwer fällt, Antisemitismus zu erkennen

Online-Vortrag und Diskussion mit Julian Bierwirth


Montag 11. Dezember, 19.00 Uhr (Online)

Eine Veranstaltung von krisis-Kritik der Warengesellschaft

  • Der Vortrag kann mittlerweile HIER gesehen werden

Nach dem Massaker vom 7. Oktober ging kein Aufschrei durch die globale Linke – stattdessen haben viele das Massaker als revolutionären Widerstandsakt gefeiert.

Die Diskrepanz zwischen dem Zivilisationsbruch der Hamas und dieser Reaktion könnte kaum größer sein. Gesellschaftstheoretisch hat sie ihre Ursache in einer stark verkürzten Perspektive auf die sozialen Zusammenhänge im globalisierten Kapitalismus. Sowohl links-traditionelle als auch postmoderne Spielarten der Gesellschaftskritik nehmen den modernen Kapitalismus in erster Linie als Gegeneinander von Herrschenden und Beherrschten war. Diese Perspektive erlaubt es aber weder, die globalen Verhältnisse noch die Spezifik des modernen Antisemitismus kritisch zu verstehen.

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Das Sklavenschiff und die Entstehung des Kapitalismus

Buchrezension von Nele Fuchs

(zuerst erschienen bei krisis am 21. November 2023)

In seinem Buch „Das Sklavenschiff“ beschreibt der Historiker Marcus Rediker die grausamen Zustände auf den Sklavenschiffen des 18. Jahrhunderts. Durch mitreißende Erzählungen lässt er die Leser∙innen am unvorstellbaren Leid der Verschleppten und Versklavten auf den Schiffen teilhaben. Rediker setzt eine Vielzahl von Biografien wie ein Mosaik zusammen und beschreibt damit jenes Instrument, ohne das die Sklaverei und die Entwicklung des globalen Kapitalismus nicht möglich gewesen wäre: das Sklavenschiff.

Im literarischen Stil wird Geschichte from below erzählt, inspiriert von E. P. Thompsons The Making of the English Working Class. Es geht um die gewaltsame Einhegung von Menschen in den Kapitalismus, die mit verzweifelten Akten des Widerstandes versuchten, dem zu entkommen. Hungerstreik, Selbstmord und Revolte gehörten auf den Sklavenschiffen genauso zum Alltag, wie der Terror des despotischen Kapitäns und die bestialische Gewalt der Besatzung gegen die Versklavten.

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Das Original kommt aus Deutschland

Von wegen Vergangenheitsbewältigung: Über die bequeme Rede vom „importierten Antisemitismus“ und deren rassistischen Gehalt

von Justus Cider

(zuerst erschienen in Disposable Times am 26. November 2023)

Der Antisemitismus ist in Deutschland ein alter Bekannter. Da sein Vorhandensein nun augenfällig wird, versucht die Politik, ihn zu “bekämpfen”. Doch bei ihrem Versuch, Antisemitismus als einen Import von “Migrant:innen” zu labeln, stochern Bundesregierung und Opposition gleich in zweierlei Hinsicht im Nebel. Diese Annahme ist nicht nur rassistisch, sie ist auch inhaltlich falsch und relativiert die weitverbreiteten antisemitischen Denkmuster, die auch in der deutschen Mehrheitsbevölkerung existieren.

Versöhnungstheater

Wir erleben momentan nicht viel mehr als die x-te Aufführung eines Stückes, das Max Czollek zurecht als “Versöhnungstheater” beschreiben hat. Das Ziel dieser Aufführung sei weniger ein angemessener Umgang mit der Shoa als vielmehr ein gutes Stück “Gegenwartsbewältigung”. Dadurch wird die deutsche Vergangenheit als “bewältigt” deklariert. Der in der Gesellschaft vorhandene Antisemitismus kann auf diese Weise bequem ausgeblendet und verdrängt werden.

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