Wer hat, dem wird gegeben

Die Bundesregierung verteilt um – von unten nach oben

Kommentar von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Jungle World)

Essen, Heizen, Miete, U-Bahn und Benzin: Alles wird immer teurer. Das trifft arme Menschen härter als Gut­verdienende – und die Steuerpolitik der Bundes­regierung verschärft dieses Ungleichgewicht sogar noch.

Als die drastischen Preissteigerungen für Lebensmittel, Heizen, Wohnen und so ziemlich alles andere noch verhältnismäßig neu waren, behauptete das Münchner Ifo-Institut im November 2021: »Inflation trifft aktuell Reiche stärker als Arme.« Nach der Argumentation der arbeitgebernahen Forschungseinrichtung, die ständig eindringlich vor einer Erhöhung des Mindestlohns warnt, verteuerten sich die sogenannten Warenkörbe der Besserverdienenden noch schneller – zum Beispiel wenn bei der Neuanschaffung einer Luxuskarre gleich ein paar tausend Euro mehr fällig werden.

Die Berechnung des Instituts erstaunte. Denn immer und immer wieder wurde in den vergangenen zwei Jahren errechnet, dass es genau andersherum ist: Die Inflation trifft arme Menschen besonders hart, weil diese einen größeren Anteil ihres Einkommens für ­Essen und Energie ausgeben.
Es wäre ohnehin absurd zu glauben, es sei eine größere Belastung, mehr für einen SUV zu bezahlen, als beim Einkauf zu gesundheitsschädlichem Billigfraß greifen zu müssen, weil Paprika für sieben Euro das Kilo das Budget sprengt.

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Faschisten planen millionenfache Deportationen – ein „Welt“-Autor möchte sie durch Regierungsbeteiligung „entzaubern“

von Minh Schredle

Nachdem „Correctiv“ über ein Geheimtreffen von Rechtsextremisten berichtete, auf dem unter Beteiligung der AfD Pläne geschmiedet wurden, Millionen von Menschen aus der Bundesrepublik nach Afrika zu deportieren, ist auch eine positive Entwicklung zu beobachten: Zehntausende waren am vergangenen Wochenende auf den Straßen, um der drohenden Barbarei etwas entgegen zu setzen.

Doch die Lage bleibt mehr als Ernst. Und nur wenige Tage nach der Offenlegung dieser neonazistischen Absichten, rät ein Autor in der „Welt“, die AfD durch eine Regierungsbeteiligung zu „entzaubern“. Die CDU solle „in den sauren Apfel beißen“, empfiehlt Alan Posener in seinem völlig grotesken Schmierenstück, und in den Ost-Ländern koalieren, „während man auf Bundesebene der Staatsräson gehorcht und der Versuchung widersteht, mit den Radikalen zu regieren“. Als Stichwortgeber für seine Argumentation dient ihm Karl Marx, demzufolge sich die Geschichte wiederhole: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

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Radikale Arbeitszeitverkürzung als Zukunftsprojekt

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Dienstag, 12. März 2024, 18 bis 20 Uhr, München

Münchner Aids-Hilfe, Lindwurmstr. 71 (Rgb.), Raum 0.1

Eine Veranstaltung von DGB Bildungswerk Bayern

Immer noch mehr Autos, noch mehr Plastik im Meer, noch höhere Finanzgebirge, noch mehr CO2. Wir arbeiten für eine Megamaschine, die Mensch und Natur ihrem Diktat unterwirft. Die Klimakrise ist der sichtbarste Ausdruck. Doch auch die Kluft zwischen Reich und Arm wächst, Gesundheit, Bildung und Soziales werden vernachlässigt, Wohnen und Rentensystem werden unbezahlbar. Und obwohl die Computer und Roboter immer besser werden, sollen wir immer länger arbeiten.

Kämpfe um radikale Arbeitszeitverkürzung müssen sich mit Kämpfen um Klimaschutz und um Vergesellschaftung von Ressourcen verbinden. Gewerkschaften können eine zentrale Rolle für gerechtes und naturverträgliches Wirtschaften spielen.

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Schikane als Balsam für die bürgerliche Seele

Arbeitsminister Hubertus Heil plant den Bürgergeld-Entzug für Arbeitsunwillige. Eine Spiegel-Kolumnistin führt unter Verweis auf die Studienlage aus, dass die Maßnahme nichts bringen wird  und bezeichnet sie dennoch als „notwendig“ – damit sich die Arbeitenden besser fühlen.

von Minh Schredle

[zuerst erschienen bei Disposable Times]

14 Jahre nach Inkrafttreten der Harz-IV-Reformen urteilte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen zur Durchsetzung sogenannter Mitwirkungspflichten, die der deutsche Staat Erwerbslosen und Sozialhilfe-Empfänger:innen auferlegt. Gängig und sogar gesetzlich zwingend vorgeschrieben war es zu diesem Zeitpunkt, die staatlichen Leistungen, mit denen ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert werden sollte, schrittweise zu kürzen: Beim ersten Regelverstoß gegen die Mitwirkungspflichten – zum Beispiel durch die Ablehnung einer als zumutbar eingestuften Beschäftigung – um 30 Prozent, beim zweiten Mal um 60 Prozent und schließlich um 100 Prozent.

Das Bundesverfassungsgericht stellte damals klar, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Grundrecht darstelle. „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren“, hieß es in der Urteilsbegründung, die die damalige Sanktionspraxis als teilweise verfassungswidrig einstufte: Die Kürzungen von 60 und 100 Prozent der Bezüge wurden für rechtswidrig erklärt.

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Was ist Antisemitismus? Was ist Israel?

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Montag, 19. Februar 2024, 19 Uhr, Karlsruhe

Cafe Noir, Schauenburgstr. 5, 76135 Karlsruhe

Eine Veranstaltung von Solidarische Perspektiven

  • Der Vortrag ist mittlerweile HIER zu hören

(Fast) alle sind gegen Antisemitismus – und wissen trotzdem nicht, was er ist. Viele Linke glauben, sie seien dagegen immun, weil sie Antirassist*innen sind. Doch Antisemitismus ist etwas völlig anderes als Rassismus. Er ist eine Verschwörungsideologie mit antikapitalistischem Anspruch, die nichts vom Kapitalismus kapiert hat. Linke, die von „der profitgierigen Kapitalistenklasse“ reden und Klimaaktive, die glauben, „die Reichen“ seien an der Klimakrise schuld, sind deswegen keine Antisemit*innen – aber anfällig für antisemitische Denkmuster. Auch auf Coronademos wurde von Milliardären phantasiert, die „schuld sind“.

Der moderne Antisemitismus wurzelt im zwei Jahrtausende alten christlichen Antijudaismus, der die Juden als Inkarnation des Bösen schlechthin imaginiert. Von Europa aus verbreitete er sich weltweit. Seinen bisherigen Höhepunkt fand er in der Shoah. Die Nationalsozialisten setzten die eingebildeten „Gierigen und Mächtigen, die die Welt versklaven“ mit „den Juden“ gleich.

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Wider die Instrumentalisierung Hannah Arendts

Zu einer mehr als fragwürdigen Preisverleihung an Masha Gessen

von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 16. Dezember 2023 – 4 Tevet 5784 bei haGalil.com)

Durch shoahrelativierende und israeldämonisierende Äußerungen hat sich Masha Gessen – (nicht-binäre*r) russisch-amerikanische*r Autor*in und Journalist*in – als würdige*r Hannah-Arendt-Preisträger*in disqualifiziert.

Am Freitag, den 15. Dezember, sollte Masha Gessen den renommierten »Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken« im Bremer Rathaus verliehen bekommen. Der rechtliche und politische Träger des Preises ist der »Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.« mit Sitz in Bremen, wobei das Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Senat der Freien Hansestadt Bremen gestiftet wird.

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Video: Der blinde Fleck. Warum die traditionelle und postkoloniale Linke Antisemitismus so schwer erkennt

Vortrag von Julian Bierwirth

gehalten am 11. Dezember 2023 bei krisis-Kritik der Warengesellschaft

Nach dem Massaker vom 7. Oktober ging kein Aufschrei durch die globale Linke – stattdessen haben viele das Massaker als revolutionären Widerstandsakt gefeiert.

Die Diskrepanz zwischen dem Zivilisationsbruch der Hamas und dieser Reaktion könnte kaum größer sein. Gesellschaftstheoretisch hat sie ihre Ursache in einer stark verkürzten Perspektive auf die sozialen Zusammenhänge im globalisierten Kapitalismus. Sowohl links-traditionelle als auch postmoderne Spielarten der Gesellschaftskritik nehmen den modernen Kapitalismus in erster Linie als Gegeneinander von Herrschenden und Beherrschten war. Diese Perspektive erlaubt es aber weder, die globalen Verhältnisse noch die Spezifik des modernen Antisemitismus kritisch zu verstehen.

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Der blinde Fleck. Warum es der traditionellen und der postkolonialen Linken so schwer fällt, Antisemitismus zu erkennen

Online-Vortrag und Diskussion mit Julian Bierwirth


Montag 11. Dezember, 19.00 Uhr (Online)

Eine Veranstaltung von krisis-Kritik der Warengesellschaft

  • Der Vortrag kann mittlerweile HIER gesehen werden

Nach dem Massaker vom 7. Oktober ging kein Aufschrei durch die globale Linke – stattdessen haben viele das Massaker als revolutionären Widerstandsakt gefeiert.

Die Diskrepanz zwischen dem Zivilisationsbruch der Hamas und dieser Reaktion könnte kaum größer sein. Gesellschaftstheoretisch hat sie ihre Ursache in einer stark verkürzten Perspektive auf die sozialen Zusammenhänge im globalisierten Kapitalismus. Sowohl links-traditionelle als auch postmoderne Spielarten der Gesellschaftskritik nehmen den modernen Kapitalismus in erster Linie als Gegeneinander von Herrschenden und Beherrschten war. Diese Perspektive erlaubt es aber weder, die globalen Verhältnisse noch die Spezifik des modernen Antisemitismus kritisch zu verstehen.

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Kapitalismuskritik und emanzipatorische Bewegungspraxis

Zum Zusammenhang von kapitalistischen Strukturen und emanzipatorischer Bewegung

Vortrag und Diskussion mit Julian Bierwirth

Freitag, 8.12.2023, 18.30 Uhr, Hannover

Elchkeller

Eine Veranstaltung von AK Widerspruch

Lange Zeit schien klar, wofür linke Bewegungen kämpfen: Ihr Ziel war die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse. Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein konnten sie damit auch durchaus Erfolge erzielen. Die Arbeiter:innen im Globalen Norden konnten sich stetig bessere Arbeitsbedingungen und immer höhere Löhne erstreiten. Dementsprechend waren diese Kämpfe keineswegs Kämpfe gegen den Kapitalismus, sondern vielmehr Kämpfe um die Integration der Arbeiter:innen in die kapitalistische Maschinerie.

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Das Sklavenschiff und die Entstehung des Kapitalismus

Buchrezension von Nele Fuchs

(zuerst erschienen bei krisis am 21. November 2023)

In seinem Buch „Das Sklavenschiff“ beschreibt der Historiker Marcus Rediker die grausamen Zustände auf den Sklavenschiffen des 18. Jahrhunderts. Durch mitreißende Erzählungen lässt er die Leser∙innen am unvorstellbaren Leid der Verschleppten und Versklavten auf den Schiffen teilhaben. Rediker setzt eine Vielzahl von Biografien wie ein Mosaik zusammen und beschreibt damit jenes Instrument, ohne das die Sklaverei und die Entwicklung des globalen Kapitalismus nicht möglich gewesen wäre: das Sklavenschiff.

Im literarischen Stil wird Geschichte from below erzählt, inspiriert von E. P. Thompsons The Making of the English Working Class. Es geht um die gewaltsame Einhegung von Menschen in den Kapitalismus, die mit verzweifelten Akten des Widerstandes versuchten, dem zu entkommen. Hungerstreik, Selbstmord und Revolte gehörten auf den Sklavenschiffen genauso zum Alltag, wie der Terror des despotischen Kapitäns und die bestialische Gewalt der Besatzung gegen die Versklavten.

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Das Original kommt aus Deutschland

Von wegen Vergangenheitsbewältigung: Über die bequeme Rede vom „importierten Antisemitismus“ und deren rassistischen Gehalt

von Justus Cider

(zuerst erschienen in Disposable Times am 26. November 2023)

Der Antisemitismus ist in Deutschland ein alter Bekannter. Da sein Vorhandensein nun augenfällig wird, versucht die Politik, ihn zu “bekämpfen”. Doch bei ihrem Versuch, Antisemitismus als einen Import von “Migrant:innen” zu labeln, stochern Bundesregierung und Opposition gleich in zweierlei Hinsicht im Nebel. Diese Annahme ist nicht nur rassistisch, sie ist auch inhaltlich falsch und relativiert die weitverbreiteten antisemitischen Denkmuster, die auch in der deutschen Mehrheitsbevölkerung existieren.

Versöhnungstheater

Wir erleben momentan nicht viel mehr als die x-te Aufführung eines Stückes, das Max Czollek zurecht als “Versöhnungstheater” beschreiben hat. Das Ziel dieser Aufführung sei weniger ein angemessener Umgang mit der Shoa als vielmehr ein gutes Stück “Gegenwartsbewältigung”. Dadurch wird die deutsche Vergangenheit als “bewältigt” deklariert. Der in der Gesellschaft vorhandene Antisemitismus kann auf diese Weise bequem ausgeblendet und verdrängt werden.

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Gestohlene Lebenszeit

Warum Kapitalismus zu Verzicht nötigt und wir viel weniger arbeiten könnten

von Lothar Galow-Bergemann und Ernst Lohoff

  • Radikale Arbeitszeitverkürzung ist möglich, aber nicht im Kapitalismus
  • Care: Die Verdrängung des Menschen überwinden
  • Die Corona-Krise widerlegt die Unerschütterlichkeit kapitalistischer Zustände
  • Nicht verzichten, sondern mit dem Verzichten aufhören

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Was „unsere Wirtschaft“ mit der Krise zu tun hat

Eine Einführung in die Kapitalismuskritik

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Donnerstag, 16. Mai 2024, 20 Uhr, Passau

ZAKK Passau, Firmianstraße 10

Eine Veranstaltung von LUKS Passau

Immer noch mehr Autos, noch mehr Plastik im Meer, noch höhere Finanzgebirge, noch mehr CO2… Alle sind für Klimaschutz, aber die globale Erwärmung nimmt unaufhörlich zu. Alle sind für soziale Gerechtigkeit, aber Kinder- und Altersarmut wachsen. Alle wünschen sich mehr freie Zeit zum Leben, aber sollen immer mehr und länger arbeiten. Niemand will die Krise, aber keiner kriegt sie in den Griff.

Dass Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander klaffen, hat viel mit dem herrschenden Wirtschaftssystem zu tun. Was ist das eigentlich, dieser Kapitalismus? Wie funktioniert er? Warum muss er ewig wachsen? Oder sollte man nicht doch besser von Marktwirtschaft reden?

Haben uns „die Herrschenden“ und „die Gierigen“ die Krise eingebrockt? Was tun wir eigentlich, wenn wir arbeiten? Wie sollte man den Kapitalismus vernünftigerweise kritisieren? Und wie könnten Alternativen aussehen?

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Kleine Politische Ökonomie der Hamas

Viel Geld, aber wenig Wirtschaft

von Justus Cider

(zuerst erschienen in Disposable Times am 15. November 2023)

Im jahr 2005 hat sich Israel aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Im Januar 2006 kam es zu Wahlen, in denen die Hamas die meisten Stimmen bekam. Die Organisation hat in den Folgejahren ihre politische Konkurrenz im Rahmen eines Bürgerkriegs ausgeschaltet. So herrscht die Hamas seit nunmehr fast 20 Jahren alleine im Gazastreifen.

Dabei steht allerdings weder die Verbesserung der Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung (wie es liberale Wirtschaftstheorien stets unterstellen) noch die Durchsetzung einer dauerhaft tragfähigen Kapitalakkumulation (von der marxistische Wirtschaftstheorien ausgehen) im Zentrum des Handelns.

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Kritik des Neuen Materialismus

Vortrag und Diskussion mit Nick Gietinger

Dienstag 14. November, 18.00 Uhr, Frankfurt/Main
Random White House, AfE-Turm-Gedächtnis-Gasse

Eine Veranstaltung von Kritik am Campus im Rahmen der Vortragsreihe zur Einführung in ideologiekritische Themen im Wintersemester 2023/24 an der Universität Frankfurt.

Der Neue Materialismus ist seit einigen Jahren in aller Munde innerhalb des akademischen Betriebs. Oftmals wird ihm zugesprochen den „alten“ Materialismus ergänzen oder gar ersetzen zu können. Was die theoretischen Prämissen und Fallstricke einiger Theorien sind, die sich unter dem Neuen Materialismus verbergen, soll in der Veranstaltung aufgezeigt werden. Es geht um die Frage: „Inwiefern taugt der Neue Materialismus zur Gesellschaftskritik?“

Wir freuen uns auf eine interessante Diskussion. Vorwissen ist keines nötig.

Nick Gietinger hat zum Thema des Vortrags einen Text verfasst: Idealistischer Materialismus. Bruno Latour und die Prämissen einer unkritischen Theorie

Antisemitismus und Terror

Zur Geschichte des „Nahostkonflikts“ und dem Charakter des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023

von Justus Cider

(zuerst erschienen in Disposable Times am 29. Oktober 2023)

Die Eskalation in Nahost nach dem Angriff der Hamas auf Israel ist in vollem Gange. Es ist absehbar, dass die Folgen der von der Hamas begangenen Pogrome die Weltpolitik für einige Zeit beschäftigen werden. In den aktuellen Auseinandersetzungen fehlt häufig der Blick für die Entstehungsgeschichte des Konfliktes. Darum holen wir in dieser Darstellung etwas weiter aus.

Der Doppelcharakter des Staates Israel

Im Jahr 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Er kann (und muss) als Reaktion auf den eliminatorischen Antisemitismus in Europa verstanden werden. Und dieser war und ist eine spezifische Weltanschauung, in der die negativen Folgen der kapitalistischen Gesellschaft und die abstrakte Gewalt dieser Ordnung konkretisiert werden. Die Gewalt, die vom Kapital als einem von den Menschen hervorgebrachten, sich aber ihnen gegenüber verselbstständigenden Prinzip hervorgebracht wird, wird im Antisemitismus in jüdischen Menschen personalisiert. Wie ist das gemeint?

Die kapitalistische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass hier nicht einfach konkrete Dinge hergestellt und verteilt werden. Vielmehr entsteht im Kapitalismus eine Sphäre abstrakter Vermittlung, die durch das Handeln der Menschen geschaffen wird, die sich ihnen gegenüber aber verselbstständigt und den Menschen als äußerer Zwang gegenübertritt. Diese Sphäre abstrakter Vermittlung nennt Marx “Wert”. Ihre dynamische Verlaufsform, die auf eine immer weiter fortschreitende Unterwerfung der Welt unter die Formprinzipien einer abstrakten Vergesellschaftung abzielt, nennt er “Kapital”. Dieses Kapital ist es dann auch, dem der Kapital-ismus seinen Namen verdankt.

Die abstrakte und die konkrete Seite des Kapitalismus sind dabei jedoch untrennbar miteinander verbunden. Der abstrakte Zweck der Gewinnmaximierung und die zu diesem Zweck verrichtete konkrete Arbeit in der Fabrik lassen sich nur künstlich trennen. Im Antisemitismus erscheinen die konkrete Arbeit und die Fabrik als das Gute, während das Geld und seine Institutionen als das Böse erscheinen:

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Ich klage an

Brief eines Israeli an europäische Linke

von Avi Rybnicki, Tel Aviv

english translation

Liebe Genossinnen und Genossen von der Europäischen „Linken“!

Diese Zeilen sind nicht das Ergebnis einer gut durchdachten intellektuellen Analyse, sondern von Nächten mit sehr wenig Schlaf, heftigen Emotionen der Trauer, Traurigkeit, Wut, Frustration, Hilflosigkeit und Sorge darüber, was die nächsten Tage des Krieges mit sich bringen werden. Ich schreibe Euch, weil Ihr logischerweise auch in diesen Tagen meine Partner sein solltet, Partner im Kampf für eine bessere Welt mit mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und auch – ich wage es, dieses Wort sogar in diesen Tagen zu erwähnen – Frieden.

Ich schreibe auch deshalb, weil ich mich viele Jahre lang geweigert habe, die Überzeugung meiner Eltern, Überlebende von Auschwitz, zu akzeptieren, dass wir Juden in Wahrheit auf uns allein gestellt sind und es niemanden gibt, auf den wir uns verlassen können.

Sie hatten nicht recht. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der Präsident Frankreichs, der deutsche Kanzler und andere kamen und drückten ihre Solidarität aus, ein Teil von ihnen nicht nur mit Worten.

Aber wir, die fortschrittlichen Israelis, wir fühlen uns ziemlich allein.

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I accuse

Letter from an Israeli Leftist to Western Leftists

by Avi Rybnicki, Tel Aviv

german version

Dear comrades from the western left (double meaning)!

These lines are not the product of a well thought intellectual analysis but of nights with very little sleep, high emotions of grief, sadness anger, frustration, helplessness and sorrow of what the next days of war will bring with. I write You because logically You ought be also in these days my partners, partners in the struggle for a better world of more freedom, justice, democracy and also – I dare to mention this word even in these days – peace.

I also write because for many years I refused to accept the conviction of my parents, survivors of Auschwitz, that in real time we Jews are on our own and there is nobody else to rely on. They were not right. The president of the United States, the President of France, the German Kanzler and others came and expressed their solidarity, part of them not only in words.

But we, the Israeli progressive people, we feel quite alone.

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Eritrea: Der lange Arm des Regimes und die Hölle, in die Geflüchtete abgeschoben werden sollen

Zu Hintergründen der Krawalle in Stuttgart

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 656 am 25. Oktober 2023)

Die Flucht aus Eritrea ist noch nicht das Ende der Verfolgung. Der Machtapparat des Diktators hat seine Landsleute auch im Ausland im Blick. Aster Ghidey traut sich als eine der wenigen, ihre Kritik öffentlich zu äußern – und ist frustriert, dass Aufmerksamkeit erst nach Gewaltexzessen folgt.

Augenblicklich schlägt die Stimmung um, die Heiterkeit ist verflogen. Der Wirt möchte in nichts verwickelt werden und lächelt zwar noch. Aber plötzlich wirkt es nicht mehr wärmend. Leider kann er nichts über die Lage in Eritrea sagen, bringt er mit zusammengepressten Lippen hervor – und bittet, ihn nicht zu zitieren, keine Details über sein Lokal zu nennen oder sonstige Informationen öffentlich zu machen, über die er identifiziert werden könnte.

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